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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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der
übrigen noch stärker als das Begriffsvermögen. Aber lange bevor die Mehrzahl in
Gefahr geriet, war alle Einsicht da. Nur ganz zuletzt ging sie wieder verloren.
So weit waren sie aber bisher nicht. Franklin lebte. Er war langsamer als der
Tod, das konnte die Rettung sein.
    Bei einem Erkundungsmarsch im Mai 1847 stieß eine Gruppe aus
Offizieren und Matrosen von der Erebus über King
Williams Land bis zur Mündung des Großen Fischflusses vor. Von dort aus war der
Verlauf der Küste gegen Westen bekannt, Franklin selbst hatte die Karten fünfundzwanzig
Jahre zuvor gezeichnet. Als die Gruppe zu den Schiffen zurückkehrte und die
Ergebnisse meldete, lachte er mit der einen Hälfte seines Gesichts und weinte
mit der anderen. Die Nordwestpassage war gefunden, und sie war in der Tat wegen
des Eises vollkommen nutzlos, wie jedermann bereits geahnt hatte. Franklin gab
zu verstehen, daß er ein Fest feiern wolle, und so geschah es. Es war auch
eines, obwohl allein an diesem Tag drei Mann starben. Alle, die lebten, hatten
wieder Hoffnung.
    Franklin deutete auf die Karten, lallte einzelne, mühsam
wieder gelernte Wörter mit großer Anstrengung. Der vorgereckte Hals, die
aufgerissenen Augen – er sah aus wie als Kind, wenn er in eine Kutsche
einzusteigen versuchte, die gleich losfahren konnte. Aber wer das Richtige
sagte, brauchte dabei nicht gut auszusehen, er durfte sich Zeit nehmen.
    Es dauerte Stunden, bis Crozier und Fitzjames verstanden hatten, was
der alte Mann ihnen sagen wollte. Sie sollten in genau sechs Wochen mit den
Stärksten und Gesündesten nach Süden aufbrechen und versuchen, zu den
Pelzhandelsposten, den Eskimos oder den Indianern durchzukommen und Hilfe zu
holen. Nicht sofort und auch nicht im Winter, vor allem aber nicht erst im
nächsten Frühjahr! Franklin wußte, daß sich die Rentiere nur im Spätsommer in
den Barren Grounds einfanden und daß man noch bei Kräften sein mußte, um sie zu
erjagen.
    Die beiden Offiziere sahen sich kurz an und verständigten sich
sofort: sie wollten die Kranken keinesfalls im Stich lassen.
    Am 11. Juni 1847 starb Sir John Franklin, Konteradmiral
der königlichen Marine, in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr an einem
weiteren Schlaganfall.
    Der Eismeister sprengte eine Graböffnung ins Packeis. Die Mannschaft
versammelte sich und zog die Hüte. Crozier sprach ein Gebet. Eine Gewehrsalve
krachte in den klaren Frosthimmel, dann ließ man den Sarg, beschwert mit einem
Bootsanker, langsam hinunter. Die Gruft wurde mit Wasser aufgefüllt, es fror
binnen weniger Stunden zu einer Grabplatte wie aus dunklem Glas. »Gute Reise«,
sagte Fitzjames in das Schweigen hinein.
    Das war kein leeres Wort. Denn mit den driftenden Eismassen war der
alte Kommandant ganz gewiß noch einige Zeit unterwegs.
    1848 wurden von der Admiralität drei Suchexpeditionen
ausgesandt, eine davon unter dem Kommando des auffällig schnell wieder
gesundeten James Ross. Alle drei suchten viel zu weit im Norden – Ross wußte
sehr gut, daß Franklin sein Leben lang an ein offenes Polarmeer geglaubt hatte.
Sie überwinterten im Eis und kehrten im nächsten Jahr unverrichteter Dinge
zurück. Bis 1850 wurde eine große Zahl weiterer Schiffe losgeschickt, die den
arktischen Archipel kreuz und quer durchsuchten und jede der großen Inseln
genau kartographierten. Über Franklin fanden sie aber nur heraus, daß er auf
der Beechey-Insel den ersten Winter verbracht hatte. Nun wollten die Admirale
die Suche einstellen. Sie hätten das bereits 1849 getan, wenn Lady Franklin
nicht gewesen wäre.
    Unter dem Beifall der gesamten Öffentlichkeit setzte sich Jane für
die weitere Suche nach ihrem Mann ein, mit allem, was ihr zur Verfügung stand:
ihr eigenes und Johns Vermögen, Schlauheit und Überzeugungskraft, Zorn und
Spott, echte und künstliche Tränen, wann immer sie nötig waren. Sie mietete
sich ein Zimmer in dem Hotel gegenüber der Admiralität, um ihren Gegnern recht
nahe sein zu können. Ihre Auftritte waren gefürchtet. Vergebens ließen sich die
Bürokraten verleugnen. Jane wurde zu einer Expertin für arktische Navigation,
weil sie alle Berichte genau studierte und ein vorzügliches Gedächtnis besaß.
Sie führte Korrespondenzen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, mit dem
Zaren, mit einem spendablen New Yorker Millionär und mit einigen

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