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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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ihm bei der Ausrüstung jeden
Wunsch, sogar manchen, der ihm gar nicht einfiel.
    Als Jane ihn über die Unterredung mit Peel befragen wollte,
antwortete er nur: »Nichts Besonderes. Er hat die Langsamkeit entdeckt.«
    Am Nachmittag des 9. Mai hörten Sir John und Lady Franklin
in einem Saal am Queen Square drei Klaviersonaten eines Ludwig van Beethoven,
gespielt von einem rüstigen alten Herrn namens Moscheles. John mochte alle
allzu hohen Töne nicht, auch wünschte er sich ein längeres Verweilen der
tieferen. Er freute sich aber an der Wiederholung einprägsamer Klangfiguren.
Viel hatte er nicht erwartet. Seine Taubheit machte ihm zu schaffen. Er wußte
so gut wie nichts über Musik und glaubte den schnellen Passagen nicht folgen zu
können. Deshalb machte er sich Gedanken zur Fleischversorgung der Expedition.
Qualität und Lagerung, Salzgehalt, die Auswahl des Lebendviehs – nichts wollte
er dem Zufall überlassen. Zwei bis drei Überwinterungen, da kam man mit bloßem
Glück nicht mehr durch, nur noch mit gründlicher Vorbereitung.
    Bei der letzten Sonate, sie hieß »Opus 111«, ging es ihm seltsam.
Seine Gedanken erhoben sich weit über Rinderhälften und Vorratsfässer, die
Augen verließen, ohne die Blickrichtung zu ändern, den Alten und seinen Flügel.
Die Musik war traurig und spielerisch in einem, hell und klar, der langsame
Satz wie ein Gang an der Küste, mit Wellen, Fußstapfen und feingeripptem Sand.
Zugleich war es wie ein Blick aus der Kutsche und der Betrachter jederzeit
frei, das Ferne ziehen oder das Nahe flimmern zu lassen. John meinte hier die
feinen Rippen allen Denkens zu erfahren, die Elemente und zugleich die
Beliebigkeit aller Konstruktionen, den Bestand und das Entgleiten aller Ideen.
John fühlte sich einsichtig und optimistisch. Einige Minuten nach dem letzten
Ton wußte er plötzlich: Sieg und Niederlage gab es gar nicht. Es waren
willkürliche Begriffe, die in den von Menschen gesetzten Zeitvorstellungen umherschwammen.
    Er ging zu Moscheles und sagte: »Der langsame Satz war wie das Meer.
Damit kenne ich mich aus.« Moscheles strahlte ihn an. Wie dieser alte Mann
strahlen konnte! »Freilich, Sir, das Meer, molto semplice e cantabile, wie ein
guter Abschied.«
    Als sie nach Hause fuhren, sagte John zu Jane: »Es gibt noch so
viel. Wenn die Passage hinter mir liegt, will ich ein wenig Musik lernen.«
    In einem Atelier wurde von jedem einzelnen Offizier und
Unteroffizier der Expedition zur Erinnerung eine Daguerreotypie hergestellt.
Nacheinander nahmen alle vor dem wallenden Samtvorhang Platz und blickten
gestrafft und edel. Es roch wie in einer Schlacht, denn die nötige Helligkeit
wurde durch Pulverbrände besorgt. Sir John behielt den Hut auf, um seine Glatze
zu verbergen. Daher behielten alle ihm zuliebe ihre Hüte auf bis zum jüngsten
Midshipman. »Es sind auch sonst vorzügliche Leute, die Mannschaft ist Gold
wert«, meinte der Zweitkommandierende, Kapitän Crozier. »Das ist sie«, nickte
John, »Augenblick bitte!« Er notierte etwas, um es nicht zu vergessen. Bald
darauf schrieb er Peter Roget einen Brief: »Wenn man für den Bilderwälzer
Daguerreotypien verwendet, muß man den Zeitabstand zwischen den einzelnen
Aufnahmen so verringern, daß die Personen ihre Haltung nicht immer wieder
aufgeben und dann neu einnehmen müssen. Vielleicht lassen sich so viele
Aufnahmen pro Sekunde machen, daß alle Darsteller in ihrer natürlichen Bewegung
begriffen bleiben können. Im übrigen sind meine Bedenken gegen den Bilderwälzer
nicht beseitigt. Es kommt darauf an, ihn aus den richtigen Gründen und zum
richtigen Zweck zu verwenden. Nach meiner Rückkehr dazu einige technische
Vorschläge.«
    Als am Morgen des 19. Mai die Schiffe sich vom Kai lösten,
drehte Sophia sich um und weinte. John sah es vom Achterdeck aus. Jane schien
Sophia durch einen Witz aufheitern zu wollen. John wußte, daß Janes fröhliches Unverständnis
besser trösten konnte als das tiefe Mitleid anderer. Ella ließ sich nicht
ablenken, sie winkte weiter und hüpfte lachend, wie ihre Mutter es getan hatte.
Alle rechneten damit, daß die Reise nicht länger als ein Jahr dauern würde.
Sogar Crozier hatte gesagt: »Wenn alles glatt geht, kommen wir diesen Sommer
durch.«
    Nach zwei Stunden lag die Pier von Greenhithe jenseits der

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