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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Charakter ist alles.«
    John fühlte sich erwärmt von so viel zustimmenden Worten. Noch immer
blieb er wachsam. Als Theoretiker gelobt zu werden war nicht alles, was sich
ein Praktiker wünschte.
    Â»In die Schule muß mehr vom Geist unserer Navigatoren hinein«, sagte
Peel, »und weniger von dem der Prediger«. Er zog die Uhr aus der Westentasche
und hielt sie sich zum Ablesen an die rechte Kniescheibe. Weitsichtig also.
John hatte schon davon gehört. »Um es kurz zu machen, Mr. Franklin: ich will
eine neue Institution schaffen, einen Königlichen Beauftragten für Erziehung.
Damit kann ich den vielen pädagogischen Ansprüchen entgegenkommen und sie
zugleich in Schach halten. Die neue Stelle soll unter anderem für den
Kinderschutz und die Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen zuständig sein. Sie
soll Vereinheitlichungspläne prüfen und jährlich einen umfassenden Bericht über
alle Schulen und die Lage der Jugend vorlegen. Dafür brauche ich jemanden, der
nichts überstürzt, der keine persönlichen Ziele verfolgt, keine religiösen und
weltverbessernden Interessen vertritt und sich unbeirrbar zeigt von Geschrei.
Es muß einer sein, der einen guten Ruf und Integrität besitzt und dessen
Ernennung nicht von einer der religiösen Gruppen als Provokation aufgefaßt
werden kann. All das trifft auf Sie zu, Mr. Franklin!«
    John merkte, daß er rot wurde, und gab sich Mühe, seiner Freude
nicht ganz nachzugeben. Dieser Peel schien, wie er, aus eigener Notwendigkeit
die Langsamkeit entdeckt zu haben. Er war offenbar bereit, ihr Geltung zu
verschaffen. John meinte wie durch eine Wand ins Freie zu treten. Die Utopien
seines Lebens waren wieder gegenwärtig: Kampf gegen unnötige Beschleunigung,
sanfte, allmähliche Entdeckung der Welt und der Menschen. Eine sprechende Säule
schien sich aus der Mitte des Meeres zu erheben, er sah Maschinen und
Einrichtungen vor sich, die nicht der Ausnutzung, sondern dem Schutz der
individuellen Zeit dienten, Reservate für Sorgfalt, Zärtlichkeit, Nachdenken.
Auch schienen ihm Schulen möglich, in denen nicht mehr das Lernen unterdrückt
und die Unterdrückung gelehrt wurde. Es gab kaum ein mächtigeres Reich als das
britische, kaum einen mächtigeren Mann als dessen Premierminister, und keinen
angeseheneren als Robert Peel. Wenn dieser ein Bruder war …
    Â»Lassen Sie sich Zeit mit Ihrer Antwort«, sagte Peel und hielt
abermals die Uhr ans Knie. »Und schweigen Sie darüber noch zu jedermann. Wenn
Ashley von der Sache Wind bekäme …«
    John wurde wieder wachsam. Lord Ashley, der Earl von Shaftesbury?
Das war doch der, der für die Abschaffung der Kinderarbeit kämpfte. John nahm
sich ein Herz und fragte:
    Â»Viel durchsetzen soll ich wohl nicht?«
    Â»Wir haben uns vollkommen verstanden«, antwortete der Premier. »Es
geht darum, mit großer Würde auf der Stelle zu treten. Plötzliche Änderungen
gerade auf diesem Gebiet würden viele Gefahren heraufbeschwören – aber wem sage
ich das!«
    Â»Sie brauchen jemanden, der für alles zuständig ist, aber nicht viel
tut«, überlegte John und stand auf. Sollte er die Augen zumachen und dem faulen
Angebot zustimmen? Auszahlen würde es sich natürlich. Er ging zum Fenster.
Trotz Peels spürbarer Ungeduld dachte er ausgiebig nach. Dann wandte er sich
um: »Sie haben mir das Richtige angeboten, Sir Robert, aber aus den verkehrten
Gründen und zum falschen Zweck. In der Tat, wir sollten darüber zu jedermann
schweigen.« Damit verbeugte er sich und ging.
    Zum ersten Mal in seinem Leben brauchte John über alles
Weitere nicht lange nachzudenken. Er ging direkt zur Admiralität und ließ den
erstaunten Barrow wissen, daß er ab sofort wieder für ein seemännisches
Kommando zur Verfügung stehe.
    Wie auf Parole öffneten sich alle Wege. Binnen zweier Tage übernahm
John die Schiffe Erebus und Terror – der gute James Ross hatte kurzerhand mitgeteilt, er müsse aus
Gesundheitsgründen die Leitung der Expedition abgeben. Daß John Franklin am
meisten geeignet und berufen war, die Nordwestpassage zu finden, daran gab es
keinen Zweifel. Dasselbe galt für die Schiffe. Erebus und Terror waren stark gebaute ehemalige
Mörserträger, etwas schwerfällig, aber dafür fest und geräumig, der Takelage
nach Dreimastbarken. Die Admirale erfüllten

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