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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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hatte längst wieder passieren müssen. Wenn es nun
jemanden traf, dann am besten ihn selbst.
    London war im Sommer 1846 von vielerlei Nachrichten so
aufgewühlt, daß irgendwelche Neuigkeiten aus der Arktis kaum Eindruck gemacht
hätten.
    Im Parlament ging es über die schon lange obsoleten Korngesetze hin
und her. Da in Irland Hunger herrschte und eine Katastrophe bevorstand, wurde
die Entscheidung gegen den Protektionismus immer dringender. Der Brotpreis
mußte endlich gesenkt werden, auch wenn eine Handvoll einflußreicher
Landbesitzer Zeter und Mord schrie. Robert Peel, der als Anführer der
konservativen Partei lange Zeit ein Verteidiger der Korngesetze gewesen war,
änderte mit Souveränität und Tapferkeit öffentlich seine Haltung. Er schaffte
die Gesetze ab und erntete dafür den Zorn seiner hochadeligen Kollegen. Zwar
verlor er sein Amt, doch er gewann die Dankbarkeit der Hungernden.
    Am 15. Juli 1846 waren Lady Franklin und Sophia als einzige
Passagiere auf einem bildschönen Klipper von New York nach London unterwegs und
umrundeten bei strahlender Sonne die irische Südküste. Sie hofften, in London
eine erste Nachricht von Erebus und Terror vorzufinden.
    In Spilsby brach am selben Tag ein furchtbarer Sturm los. Mehrere
alte Bäume wurden entwurzelt, zwei Menschen auf offener Straße vom Blitz
erschlagen, Dächer abgedeckt und einige Hütten in der Armensiedlung einfach
umgeweht. Das Getreide lag vom Hagel zerschlagen auf den Feldern. Hätte man den
Leuten in Spilsby erzählt, was sich am selben Tag im Eismeer zutrug, sie hätten
gewiß aufgehorcht. Aber schon wenige Minuten später hätten sie sich wieder dem
eigenen Schicksal zugewandt – mit Recht.
    Im Schraubeis vor der Küste von King Williams Land wurden
die Schiffe am 12. September endgültig eingeschlossen. Mehrere nach Süden
vorrückende Packeisströme wurden hier durch zwei Küsten, die wie ein Trichter
wirkten, zusammen- und übereinandergeschoben. Riesige Schollen kippten hoch und
ragten für ein, zwei Tage wie ein Lateinersegel, grell von der Sonne
beleuchtet, bis sie nach der anderen Seite umbrachen. Türme und Kegel wuchsen
empor und versanken wieder, die Massen befanden sich in einer Drehbewegung, als
würden sie umgepflügt. Die Seeleute kämpften Tag für Tag um das Leben ihrer
Schiffe, sägten, sprengten, schleppten Eisschollen ohne Pause. Das Risiko, daß
die Rümpfe durch unberechenbare Bewegungen der Eisfelder zerpreßt würden, wuchs
weiter, bis sie endlich durch die Gewalt des Drucks immer mehr angehoben wurden
und schließlich auf einem Sockel zu stehen schienen. Jetzt mußte dafür gesorgt
werden, daß dieser Halt nicht umbrach. Zeichnungen von architektonischer
Genauigkeit wurden angefertigt, statische Berechnungen angestellt, Anker
gelegt. Franklin wußte, daß die Schiffe mit dem Eis nach Süden drifteten,
freilich so langsam, daß die Küste des Kontinents erst in vielen Jahren
erreicht werden würde. Aber er wollte seine Schiffe und Männer schon noch
durchschleusen durch diese Mühle.
    Franklin saß an Deck, blickte in die Sonne, deren Namen er nicht
mehr kannte, und gab sich gutgelaunt und hoffnungsvoll. Er konnte weder sprechen
noch schreiben, und für jede Fortbewegung brauchte er Hilfe. Der Koch fütterte
ihn, manchmal tat es auch Fitzjames. Aber noch konnte er Seekarten und
Berechnungen mit einiger Mühe lesen und durch Kopfschütteln, Nicken und Deuten
anordnen, was zu geschehen hatte. Er spielte sogar weiterhin Backgammon, gewann
und lachte ein schiefes, vergnügtes Lachen. Niemand zweifelte an seiner
geistigen Gesundheit. Solange er lebte, war nichts verloren. Immer waren die
Sterbenden die gewesen, um derentwillen alles geschah: Simmonds 1805, Leutnant
Hood 1821, auf ihre Weise Eleanor 1825, Sherard Lound 1842. Jetzt also er, John
Franklin, 1846.
    Die Hälfte der Vorräte war noch da, ein bis zwei weitere Winter
waren zu verkraften, wenn man die Nerven behielt, und das war schließlich seine
Stärke.
    Auch im Frühjahr 1847 kamen die Schiffe nicht los. Der Skorbut
forderte die ersten Opfer. Franklin beobachtete seine Mannschaft genau, und das
eingeengte Gesichtsfeld half dabei mehr, als es störte. Die Moral der Leute
nahm nicht ab, sondern zu. Und so kannte es John Franklin von allen langsamen
Katastrophen: wenn die ersten zugrunde gingen, war die Bequemlichkeit

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