Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
Vom Netzwerk:
schnell aus dem
Gehirn. »… wenn unter 34 Grad 40 Minuten östlicher Länge …« Er lehnte sich über
die Kante und hielt mit der einen Hand sich, mit der anderen den Eimer fest. »…
die wahre Zeit post meridiem 8.24 Uhr ist?« Ächzend versuchte er im Kopf die
Winkel auszurechnen. Jetzt kam hoch, was in ihm war. Sphärische Trigonometrie
half also auch nicht. Das Gehirn konnte den Bauch, diesen trübseligen
Reisenden, nicht überlisten. Etwas später lag John kerzengerade, mit Kopf und Füßen
eingespreizt, und wollte herausfinden, was ihn krank machte.
    Es gab um die gedachte Querachse des Schiffs eine Schaukelbewegung,
alle halbe Minuten lang aufwärts oder abwärts und sehr unregelmäßig im
Rhythmus. Mit ihr hatte die Schwäche des Magens am meisten zu tun, aber auch
die Lähmung des Kopfes, der nach und nach so dumm wurde wie der Eimer unter
ihm. Was zu Lande problemlos zusammengehörte, unterschied sich hier durch den
Grad der Trägheit, mit der es auf die Schiffsbewegungen reagierte: der Kopf
eher als der Körper, der Bauch eher als der Magen und dieser schneller als sein
Inhalt. Dann gab es Schwankungen um die Längsachse des Schiffes, ein Krängen
und Rollen, das sich in immer neuen Kombinationen mit dem Auf und Ab verband.
Johns Gehirn fuhr hin und her wie ein Stück Butter in der heißen Pfanne und
schien sich ganz aufzulösen. Mit letzter Kraft versuchte er irgendeine
Regelmäßigkeit zu erkennen, an die sich Kopf, Magen, Herz, Lunge und alles
andere hätten halten können wie an einen gemeinsamen Nenner. »Was nützt es,
wenn ich den Standort eines Schiffs bestimmen kann, aber seine Bewegungen nicht
aushalte?« Er seufzte und rechnete weiter, den Eimer vor Augen. »Antwort: 6 Uhr
5 Minuten 20 Sekunden!« flüsterte er. Nichts konnte ihn davon abhalten, eine
Rechnung zu ihrem Ende zu bringen.
    Es schien ihm, als tauche das Vorschiff zu tief ein, vielleicht war
der Bug leckgesprungen. Der Wasserdruck erhöhte sich, je tiefer das Leck saß,
er drückte mit der Quadratwurzel der Höhe ins Schiff. Sank also ein Schiff,
dann sank es von Sekunde zu Sekunde immer gründlicher. Er ging besser nach
oben.
    Durch die Tür kam er nach sorgfältigem Zielen. An Deck begann ein Kampf
zwischen seinen zwei armseligen Händen und einem rauhen Element, das ihn ohne Umschweife
hierhin stellte, dorthin umlegte und zwischen Holz und Tauwerk einklemmte nach
Belieben. Er fand sich jedesmal in einer neuen Lage wieder, und die schwere See
verpaßte ihm dazu ein Riesenmaul voll Wasser nach dem anderen. Ab und zu sah er
Menschen, die sich an Seile oder Hölzer schmiegten, um in einem präzis
gewählten Augenblick neuen Halt zu suchen. Nur so kamen sie vorwärts. Es war,
als wollten sie dem Sturm vortäuschen, sie seien ein fester Teil des Schiffs.
Sie getrauten sich nur hinter seinem Rücken, menschliche Bewegungen zu machen.
Vom Großmast her hörte John einen schwachen Knall und wütendes Schlagen und
Knattern. Schreie, durch den Sturm gedämpft, erreichten sein Trommelfell. Das
Großmarssegel war noch gesetzt gewesen, .damit war es nun vorbei. Die See
schien weiß wie kochende Milch, und es rollten Wogen heran, auf denen ganze
Dörfer Platz hatten.
    Plötzlich packten ihn zwei Fäuste, die nicht dem Sturm gehörten. Sie
verfrachteten ihn mit einer Geschwindigkeit unter Deck, die dem freien Fall
gleichkam. Ein Fluch war der einzige Kommentar. Im Logis war der Bootsmannseimer
trotz seiner Bodenbreite umgeschlagen. John wurde wieder just so übel, wie es
roch. »Trotzdem«, sagte er, während er samt dem Eimer umfiel, »für mich ist es
das Richtige.« Er sog die Lunge voll Luft, damit eine etwaige Beklommenheit gar
nicht erst Platz hatte. Er war der geborene Seemann, das wußte er gewiß.
    Â»Das ist der beste Wind, den man haben kann«, sagte der
Holländer. »Der portugiesische Norder, immer schön von achtern, wir fahren mehr
als sechs Knoten.« Bei jedem anderen hätte John das neue Wort nicht verstanden,
aber der Holländer wußte, daß sein Zuhörer alles begriff, wenn er Pausen bekam.
Außerdem hatten sie nun beide viel Zeit, denn der Matrose hatte sich im Sturm
den Knöchel verstaucht.
    Das Wetter blieb sonnig. Auf der Höhe von Kap Finisterre sahen sie
einen großen Schiffsmast treiben, von Krebsen bedeckt und

Weitere Kostenlose Bücher