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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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schon drei Jahre
unterwegs, wenn der Kapitän recht hatte.
    Nachts näherten sie sich einem Leuchtfeuer. »Das ist Burlings«,
hörte John. Eine Insel mit Kastell und Leuchtturm. Da nahm er etwas wahr, was
ihn an Dr. Ormes Theorien erinnerte:
    Der Lichtstrahl kreiste um die Spitze des Turms – wie bei jedem
einarmigen Drehfeuer. John sah den Strahl wandern, aber das Licht blieb rechts
immer weiter sichtbar, auch wenn es schon wieder links hinüberschwenkte, und es
war links noch da, wenn es rechts wieder auftauchte. Vergangenheit und Gegenwart – was hatte Dr. Orme darüber gesagt? Am gegenwärtigsten war das Licht, wenn es
beim Aufblitzen direkt in Johns Pupille traf. Was er sonst noch sah, mußte
schon vorher geleuchtet haben, es leuchtete jetzt nur noch in seinem eigenen
Auge, ein vergangenes Licht.
    Eben kam der Holländer. »Burlings, Burlings!« murrte er. »Die Insel
heißt Berlengas!« John starrte noch immer auf den Leuchtturm. »Ich sehe einen
Schweif statt eines Punktes«, erklärte er, »und Gegenwart habe ich nur, wenn es
blitzt.« Plötzlich kam ihm ein trauriger Verdacht: Vielleicht ging sein Auge
eine ganze Runde nach? Das Aufblitzen stammte dann nicht von der gegenwärtigen,
sondern von der letzten Umdrehung!
    Johns Erklärung dauerte ihre Zeit, es wurde selbst dem Holländer zu
lang. »Ich seh’ das anders«, warf er ein. »Ein Seemann muß seinen Augen trauen
können wie seinen Armen oder …« Er verstummte. Dann nahm er seine Krücken und
verholte sein geschwollenes Bein vorsichtig unter Deck. John blieb oben.
Berlengas! Die erste fremde Küste außerhalb Englands. Es ging ihm wieder gut.
Er legte die geballte Faust aufs Schandeck, feierlich. Jetzt wurde alles
anders, heute schon ein wenig und morgen ganz.
    Gwendolyn Traill war dünn, blaßarmig, weißhalsig und von
bauschigen Stoffen so eingehüllt, daß John sonst nichts Genaues ausmachen
konnte. Sie trug weiße Strümpfe, ihre Augen waren blau, das Haar rötlich. Sie
redete hastig. John merkte, daß sie das selbst nicht mochte, aber für nötig
hielt. Das war so ähnlich wie bei Tom Barker. Sie hatte Sommersprossen. John
betrachtete das Nackenhaar über dem Spitzenkragen. Es wurde Zeit, einer Frau
beizuwohnen, um Bescheid zu wissen. Später, als Midshipman, würde er wegen so
mancher Verspätung ausgelacht werden, aber in dieser Sache wollte er einen
Vorsprung haben. Eben hatte Vater Traill etwas gesagt, hoffentlich keine Frage.
Es ging um ein Grab. »Was für ein Grab?« fragte John. Er wollte bei den
Mahlzeiten aufpassen und einen guten Eindruck machen, denn Mr. Traill würde dem
Vater alles schreiben.
    Gwendolyn lachte, und Vater Traill warf ihr einen Blick zu. Das Grab
von Henry Fielding. John antwortete, den kenne er nicht, er wisse überhaupt
noch nicht viel von Portugal.
    Unbehaglich war hier das Schnarren und Zischen aus den Mündern. Die
Leute in Lissabon sprachen, als fürchteten sie, sich an jedem Wort, das sie
nicht sofort aussprachen, die Lippen zu verbrennen, und sie bliesen viel Luft
über und unter ihm heraus. Dazu fächelten und fuchtelten sie mit den Händen.
Als John sich verirrt hatte und zum Aquädukt am Alcántara geraten war, hatte er
nach dem Weg gefragt. Statt ruhig in eine Richtung zu weisen, die er dann bis
zum Traillschen Hause ohne weiteres eingehalten hätte, fuchtelten sie. Er fand
sich auf dem Vorplatz des Klosters zum Herzen Jesu wieder. Katholisch waren sie
hier natürlich, das war noch hinzunehmen. Nicht aber, daß sie sich lustig
machten über den Gegensatz zwischen dem mächtigen England und dem ratlosen
John. Nach dem Essen zogen sich die Eltern Traill zurück. John war mit
Gwendolyn allein. Sie sprach über Fielding. Sie blähte ihre sommersprossigen
Nüstern, ihr Hals rötete sich: daß er Fielding nicht kannte! Den großen
englischen Dichter! Sie blies sich richtig auf, als würde sie gleich aufsteigen
wie eine Montgolfiere, wenn niemand sie festhielt. John sagte: »Ich kenne große
englische Seefahrer.« Von James Cook hatte Gwendolyn noch nichts gehört. Sie
lachte, ihre Zähne waren dauernd zu sehen, und ihr Kleid raschelte, weil sie
sich so viel bewegte. John hörte, daß Fielding die Gicht gehabt habe. Wie
bringe ich sie bloß zum Schweigen, überlegte er, und wie stelle ich es an, daß
ich ihr beiwohne! Er

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