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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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begann eine Frage vorzubereiten, wurde aber abgelenkt,
weil Gwendolyn nie eine Pause machte. Er hätte ihr gern lange zugehört, wenn
sie jetzt ein einziges Mal geschwiegen hätte. Sie sprach von einem Tom Jones.
Wahrscheinlich ein weiteres Grab. »Gehen wir doch hin!« sagte er und packte sie
an beiden Armen. Das war aber falsch gedacht. Wenn er sie schon festhielt, dann
hätte er folgerichtig nicht vom Gehen reden, sondern sie küssen sollen. Er
wußte aber nicht, wie das ging. Das mußte alles besser geplant werden. Er ließ
sie los. Gwendolyn verschwand mit einigen schnellen Worten, die vielleicht
nicht zum Verstehen gesagt waren. John wußte nur eins: er hatte zu lange überlegt.
Das war die störende Wirkung des Echos, von dem Dr. Orme gesprochen hatte: er
hing den gehörten oder den eigenen Worten zu lang nach. Wer aber über seine
Formulierungen immer noch einmal nachsann, konnte kein Weib überzeugen.
    Am Nachmittag ging er mit der Familie Traill durch dunkle, vom Klang
der Glocken erfüllte Gassen spazieren. Sie kamen auf einen der bebauten Hügel
und sahen die Häuser frei im Licht, weiß wie die Zifferblätter neuer Uhren,
ganz roh gebaut und ohne Ornamente, und rundum war das Land nicht grün, sondern
fahlrot. Mr. Traill erzählte vom großen Erdbeben vor vielen Jahren. Gwendolyn
ging voraus und bewegte sich zierlich. Sie setzte in Johns Körper allerhand
Dinge in Gang, ohne ihn auch nur anzusehen.
    Aber die Zeit war verstrichen, die Gelegenheit vorbei. »Denken ist
gut«, hatte der Vater gesagt, »aber nicht so lange, bis das Angebot einem
anderen gemacht wird.« Wer eine Runde nachging, hatte eine zu schmale Gegenwart,
dünn wie die Grenze zwischen Land und Meer. Vielleicht sollte er versuchen,
richtige Zeitpunkte einzufangen wie einen Ball: wenn er rechtzeitig den starren
Blick anwandte, dann war er, tauchte die Gelegenheit auf, schon beim Zufassen,
und sie entging ihm nicht. Übungssache!
    Â»Bald feiert Lissabon das Markusfest«, erzählte Mr. Traill. »Sie
bringen dann einen Stier zum heiligen Altar und legen ihm eine Bibel zwischen
die Hörner. Wird er wild, dann steht der Stadt eine schwere Zeit bevor, hält er
still, ist alles gut, dann wird er geschlachtet.«
    Ganz unerreichbar war Gwendolyn nicht. Manchmal sah sie ihn an. John
spürte bei aller Ungeduld, die sie sich auferlegte, auch eine Art Geduld,
vielleicht eine allein weibliche, an die er nicht herankam. Wäre er ein
unzweifelhafter Seefahrer und mutiger Mann gewesen, dann hätte Gwendolyn ihm
sicher viel Zeit eingeräumt. Wie zur Bekräftigung dieses Gedankens feuerte ein
klobiger Dreidecker auf der Foz do Tejo einen langanhaltenden Salut, den die
Küstenbatterie erwiderte. Gwendolyn und das Meer: noch ging nicht beides
zugleich, denn zwischen zwei Stühlen fiel man aufs Gesäß. Also wurde er erst
Offizier, verteidigte England und wohnte dann einer Frau bei! War Bonaparte
erst besiegt, dann war immer noch Zeit. Gwendolyn würde warten und ihm alles
zeigen. Vorher hatte es wenig Zweck, sich auffällig zu benehmen. Außerdem fuhr
das Schiff schon in zwei Tagen.
    Â»Also gut«, sagte Gwendolyn nach dem Essen unerwartet, »gehen wir
zum Dichtergrab!« Sie war so zäh und bedächtig wie John in der Mathematik.
    Ãœber Fieldings Grab wuchsen Brennesseln wie auf den Gräbern aller
Leute, die im Leben etwas getaugt hatten. Daß das so war, wußte John vom
Schäfer in Spilsby.
    Er blickte Gwendolyn entschlossen an, um zu beweisen, daß er das in
aller Freiheit tun konnte, ohne zu stammeln oder rote Ohren zu bekommen.
Plötzlich sah er seine Arme um ihren Nacken gelegt und fühlte seine Nase von
einer Haarlocke gekitzelt. Da fehlte wieder deutlich ein ganzes Stück des
Vorgangs. Gwendolyn machte ängstliche Augen und streckte ihre Hände zwischen
seine und ihre Brust. Die Sache war etwas unübersichtlich. Wie dem auch war, er
meinte, mitten in einer Gelegenheit zu stecken, und beschloß, seine so tüchtig
eingeübte Frage zu stellen: »Bist du damit einverstanden, daß ich dir
beiwohne?«
    Â»Nein!« sprach Gwendolyn und entschlüpfte seinen Armen.
    Da hatte er sich also geirrt. John war erleichtert. Er hatte seine
Frage gestellt. Die Antwort war negativ, das war in Ordnung. Er nahm sie als
Hinweis darauf, daß er sich nun wirklich für das Meer zu entscheiden hatte.
Jetzt wollte er Seefahrt

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