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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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und Krieg.
    Auf dem Rückweg sah Gwendolyn mit einem Male ganz fremd aus, ihr
Gesicht so flächig, die Stirne breit, die Nasenlöcher so deutlich. Wieder
überlegte John, warum das menschliche Gesicht überhaupt so aussah und nicht
ganz anders.
    Vom Schäfer in Spilsby hatte er auch gehört, daß die Frauen etwas
ganz anderes in der Welt wollten als die Männer.
    Von der Kaimauer aus leuchtete Lissabon wie ein neues
Jerusalem. Dieser Hafen, das war wirklich die Welt! Dagegen war Hull am Humber
nur eine notdürftige Landestelle für verirrte Schaluppen. Schiffe gab es hier,
dreistöckig und mit goldenen Namen an den Kastellen. Durch solche kunstvollen
Schrägfenster wollte John einst als Kapitän auf den Horizont blicken.
    Das eigene Schiff war klein. Aber es schwamm für sich allein wie
jedes andere, und es hatte einen Kapitän wie das größte auch. Die Matrosen
kamen erst spät an Bord, von Einheimischen herangerudert. Einige hatten einen
solchen Rausch, daß sie per Flaschenzug über die Reling gehievt werden mußten.
Der Vater hatte hie und da ein Glas zuviel getrunken, Stopford einige mehr,
aber was diese Seeleute sich antaten, mußte noch anders heißen. Sie fielen in
die Kojen und tauchten erst wieder auf, als man die Anker lichtete. Zuvor
zeigte einer, nicht so betrunken wie die anderen, John seinen Rücken: kreuz und
quer war die braune Haut von weißen Striemennarben durchfurcht, wie Krater und
Klippen sah das aus, so viele Hautfetzen waren losgerissen und verkehrt wieder
angewachsen. Die Rückenbehaarung, ursprünglich gleichmäßig dicht, hatte sich
der Landschaft angepaßt und bildete Gehölze und Lichtungen.
    Der Inhaber des Schauspiels sagte: »Das ist die Kriegsmarine. Für
jeden Dreck die Peitsche!« Ob man an einer solchen Strafe auch sterben konnte?
»Und ob!« sagte der Matrose.
    John wußte jetzt: es gab noch Schlimmeres als Stürme. Ferner gab es
den Alkohol, auch da würde er mithalten müssen, das gehörte alles zur
Tapferkeit. Da wurde ihm schon ein Glas hingereicht: »Versuch mal! Das nennen
wir Wind.« Eine dünnflüssige, klebrige Soße, rot und giftig – John brachte mit
angestrengter Gelassenheit zwei Schlucke hinunter und horchte in sich hinein.
Er stellte fest, daß ihm vorher wohl etwas beklommen zumute gewesen war. Er
trank aus. Jetzt sah er die Sache anders.
    Was er da an Geschichten über die Kriegsmarine hörte, galt gewiß
nicht für Tapfere.
    Sie fuhren gut zweihundert Seemeilen nach Westen in den
Atlantik hinaus, um nicht gegen den portugiesischen Norder ankreuzen zu müssen.
Außerdem war es gut, den längs der Küste lauernden englischen Kriegsschiffen
auszuweichen, die ständig darauf erpicht waren, aus angeblich überbesetzten
Handelsschiffen ihre Mannschaft aufzufüllen. Einigen an Bord war es schon so
ergangen, sie waren gefangen worden wie wilde Tiere, hatten Gefechte mitmachen
müssen und waren bei der ersten Gelegenheit wieder davongelaufen. Sie haben
eben Angst gehabt, dachte John.
    Zehn Tage noch, und sie waren wieder im englischen Kanal. John
durfte jetzt oft mit dem Kapitän essen, und der schenkte ihm obendrein
Weintrauben und Orangen. Von ihm erfuhr er auch, daß jedes Schiff eine
Höchstgeschwindigkeit hatte, über die es auch beim besten Wind nicht hinauskam,
und wenn tausend Segel gesetzt waren.
    Die Arbeit auf dem Schiff beobachtete John sehr genau. Er ließ sich
auch beibringen, wie man Knoten machte. Er stellte einen Unterschied fest: beim
Üben schien es mehr darauf anzukommen, wie schnell man einen Knoten fertig
hatte, bei der wirklichen Arbeit aber darauf, wie gut er hielt. John paßte
genau auf, bei welchen Segelmanövern Schnelligkeit wirklich nötig war. Beim
Wenden war es klar: das Schiff verlor um so mehr Fahrt, je länger seine Segel
gegen den Wind standen, also mußte man sich bei der Arbeit an den Brassen
beeilen. Es gab noch mehr solcher Situationen. John beschloß, sie im Lauf der
Zeit auswendig zu lernen wie einen Baum von unten.
    Jetzt kam es nur auf den Vater an. Der mußte an Kapitän Lawford
schreiben und dafür sorgen, daß es für seinen Sohn einen Platz als Volontär
gab. Daß er das tun würde, war nicht sehr wahrscheinlich. Es gab aber noch eine
zweite Möglichkeit: daß Matthew wieder auftauchte und John mitnahm.
    John war wieder zu Hause. Matthew blieb weiterhin

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