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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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geprüft, nachts gesetzt
und gedruckt. Er hatte Bekanntschaften, die er eben erst erneuert hatte, zu
Feindschaften werden sehen, böse Reden gehört und Ärger unterdrücken müssen. Er
hatte vom Halbsold zu leben versucht, hin und wieder sich sogar um die Hühner gekümmert.
Er hatte den Zorn der Armen, den von der gemeinsamen und von der einsamen Art,
erst nur verstehen, dann auch fürchten gelernt. Ein Wohnhaus war angezündet
worden, das Haus des reichen Bauern Hardy. Auf Steinen war in roten Lettern zu
lesen: BROT ODER BLUT ! und: FORT MIT DER DRESCHMASCHINE ! Das waren Zeiten!
    Zweifel, nichts als Zweifel. Auf See gab es das nicht.
    Er liebte Flora nur halbherzig, er wußte es. Es reichte, um ihr
beizuwohnen. Ihre Idee war dauerhaft, das schuf Ruhe. Aber jetzt begann Flora
Reed sich zu ändern. Hielt die Idee das aus? Wieviel war die Menschenpflicht
wert, wenn sie nur eine Klammer war? Oder war er es, John, der sich änderte?
Alles war »halb« hier an Land, er selbst auch.
    John tauchte aus dem Netz der Menschheitsregeln wieder auf. Sie
waren wie ein Element, in dem er sich nur mit angehaltenem Atem bewegen konnte.
Zum Luftschöpfen mußte er heraus, auch wenn er noch so lange den Atem anhalten
konnte.
    Er fing an, Flora zu ärgern. Er sagte etwa: »Der Mensch muß sich
über die Zeit erheben können.«
    Â»Was ist denn mit Sonne und Gegenwart?« spöttelte sie. Jetzt hatte
sie dieses dünne Lächeln, das John nicht einmal bei sich selbst mochte. Er und
Flora hatten in der Liebe einen Ausweg gesucht, ohne es zu wissen. Jetzt wußten
sie es, und es war keiner.
    John wurde immer ketzerischer. »Ist es denn bewiesen, daß man Elend
immer direkt begreifen kann?« fragte er. Oder: »Wieso gibt es nur ein Elend?
Ich behaupte, es gibt viele, und sie haben nichts miteinander zu tun.« Er
machte Flora manchmal so traurig, daß sie nur wenig antworten wollte. Er war es
dann auch.
    Das Gebot, sich stets mit dem Menschheitswichtigen zu beschäftigen,
ergriff notwendig immer mehr Gedanken und Handlungen. John ahnte, daß er sich,
einfach aus Pflicht zur Gleichheit, eines Tages selbst für austauschbar halten
würde. Von der Kriegsmarine her wußte er aber ganz genau, wie es war, wenn
Eigenes unwichtig wurde. Es blieb dann nur der Ausweg in die Schnelligkeit.
»Besser« war einer dann nur noch, wenn er das Gleiche schneller tat. Und diese
Möglichkeit hatte er nicht.
    Längst hatte er mit Flora darüber zu sprechen versucht. Aber sie
kannte die Kriegsmarine nicht.
    Es mußte etwas geschehen.
    Am frühen Morgen ging er aus dem Haus. Er nahm die Straße nach
Enderby, wandte sich dann nach Osten, erreichte Hundleby und Spilsby und hielt
aufs Meer zu, diesmal ohne durch Hecken zu kriechen. In Ashby strich ein
magerer Junge einen Zaun. In Scremby grüßte ihn ein Alter und ließ darüber die
Pfeife ausgehen: Zu Fuß gingen nur Arme und Dicke so weit übers Land.
    Von Gunby Hall her hörte John die Schüsse einer Jagdgesellschaft
durch die Wälder. Der Landadel jagte Füchse, schoß Fasanen und dachte sich
verschärfte Gesetze gegen Wilddiebstahl aus. John las das Land jetzt anders und
mißbilligte viel. Etwa daß man Zwölfjährige, wenn sie bloß ein kleines Stück
Fleisch gestohlen hatten, nach Van Diemen’s Land brachte, wo keiner sie kannte.
Er übernachtete in Ingoldmells, saß dann einen Tag lang auf dem Deich und
studierte die Sandarbeit des Meeres, als sähe er sie zum ersten Mal. Aus dem
Rauschen der Dünung meinte er ein Gewirr von Stimmen zu hören, wie wenn Schiffe
unterwegs wären. Da wurde kommandiert, gesungen, gewitzelt, geflucht. Spieren
knarrten, und Taljenblöcke zwitscherten. »Ausfahren«, hieß es, »Belegen«, hieß
es, »an die Marsfallen. Hol steif. Heiß Marssegel.«
    Er brauchte die Bewegungen des Meeres, und das Segeln war ihm
wichtiger als das Atmen.
    So träumte und dachte er. Er sah auch Bilder: Flußbiegungen, Boote,
wilde Tiere, gefährliche Augenblicke. Jetzt erschienen Eisberge, Schollen
knirschten unter dem Kiel, dann öffnete sich eine weite, glitzernde Durchfahrt.
Der Eisgürtel verschwand, und der Polarsommer tat sich auf und mit ihm das
Land, wo die Zeit nicht drängte. Das war seine Heimat, nicht Lincolnshire,
nicht England. Die ganze übrige Welt konnte zu dieser Heimat nur ein erstes
Stück sein –

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