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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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Vom Nordpol her fing alles neu
an, man mußte nur hinkommen.
    Er lernte auch das Schiff auswendig und prägte sich alle
Zahlen ein, die zu finden waren. Er rechnete nach, was zu rechnen war: das
Gewicht der Ladung im Verhältnis zum Gesamtgewicht, Trimmung, Segelfläche,
Lateralplan, Tiefgang. Schon biß er sich an der ersten Einzelheit fest: der
Tiefgang der Trent schien ihm schneller zuzunehmen,
als der tägliche Zuwachs an Ladung bewirken konnte. Er rechnete noch einmal
genau nach, dann bat er Leutnant Beechey zu sich, seinen Ersten Offizier. Er
wollte ab sofort von jeder Wache gemeldet haben, wie tief das Schiff lag und
wieviel Wasser in der Bilge stand.
    Ob der Leutnant seine Unsicherheit und Unruhe bemerkt hatte? Aber
Beechey besaß Taktgefühl. Wenn sich ihre Blicke getroffen hatten, wandte er
blinzelnd das Gesicht. Beim Hören schien er den Zustand der Decksplanken zu
prüfen, beim Sprechen mit seinen weiß bewimperten Sehschlitzen den Horizont
abzusuchen. Seine Miene verriet nie mehr als eine Art übellauniger Wachsamkeit,
und er sprach kein Wort zuviel.
    So, die Berechnungen waren erst einmal richtig! Die Trent hatte ein Leck. Groß schien es nicht, hatte aber den
Fehler, daß man es nicht finden konnte. Das Wasser floß ins Unterschiff – wo es
herkam, war nicht festzustellen. Sie suchten weiter. Schon im Hafen also das
Geräusch der Pumpen! Aber John war seltsamerweise erleichtert: ein Leck, das
war endlich eine reale Sorge.
    Der Oberkommandierende hielt John offenbar für einen Schützling des
Admiralitätssekretärs. David Buchan war ein rotgesichtiger, ungeduldiger Mann.
Er wollte nie lange zuhören, und vor allem wollte er wegen eines Lecks die
Abreise nicht verschieben.
    Â»Ist das Ihr Ernst? Sie haben ein Leck und finden es nicht? Und wir
sollen warten, bis der Polarsommer wieder vorbei ist? Lassen Sie Ihre Leute ein
paar Wochen pumpen, sie werden schon merken, wo das Wasser herkommt.«
    Buchans Grobheit ließ John nur noch ruhiger werden. Jetzt hatte er
sogar einen konkreten Gegner, das half und tröstete.
    Â»Sir, ich komme natürlich auch mit einem Leck ins Polarmeer!«
    Das klang so selbstbewußt und spöttisch, daß Buchan etwas unsicher
wurde: »Wenn sich das Thema bis zu den Shetlands nicht erledigt hat, heben wir
die Trent aus dem Wasser und sehen von außen nach.«
    Der 25. April 1818 war Abreisetag. Die Pier war hell von
Gesichtern. Eleanor Porden tauchte auf, wünschte dem erstaunten John viel Glück
und steckte ihm ein längeres Poem zu, an dessen Ende der Nordpol selbst in
direkter Rede zu sprechen begann und sich für besiegt erklärte. John wußte
jetzt: sie schätzte ihn wirklich. Sie bestaunte sogar noch die langen Eissägen
und das Gerät, mit dem man Meerwasser entsalzen wollte. Sie schwärmte von
Forschung, Mesmerismus und elektrischen Erscheinungen und beschwor John, er
möge im Polargebiet darauf achten, ob besonders viel Magnetismus in der Luft
liege und wie sich das auf die Sympathie zwischen den Menschen auswirke. Zum
Abschied fiel sie ihm um den Hals, ihre Stimme schwirrte. John konnte beim
besten Willen nicht anders als sie um die Hüfte fassen. Wenn er nur nicht alles
immer so lang festgehalten hätte! Er spürte, daß er Gefahr lief, ihr und
anderen auffällig zu werden, und zog sich eilends auf wichtige Kursberechnungen
zurück. Dann legten sie ab. Die Narzissen blühten. Strichweise war die Küste
ganz gelb.
    Das Wasser strömte täglich stärker ein, und sie waren
nicht genug Leute. Zur vollständigen Bemannung der Trent fehlte ein gutes Sechstel. Jeder Mann verbrachte die Hälfte seiner Wache mit
dem Pumpen.
    In Lerwick fand John trotz aller Anstrengungen weder das Leck noch
irgendwelche Freiwillige, um die Mannschaft zu verstärken. Die Bewohner der
Shetlands lebten von Seefahrt und Walfang, sie wußten gut, was es hieß, wenn
ein Schiff im Seichten gekrängt und Zoll für Zoll abgesucht wurde. Wenn man
ihnen sagte, es würden nur die Kupferplatten besser befestigt, lachten sie verlegen.
Auf einem lecken Schiff wollte keiner anheuern. John begann ernstlich zu
fürchten, daß dieses unsichtbare Loch in der Bordwand ihn um den Nordpol
prellen könnte.
    Buchan dachte daran, die fehlenden Seeleute durch ein Preßkommando
auszuheben. Aber da dies jetzt illegal war, sagte er zu John: »Stelle anheim,
Mr. Franklin!«
    Als John mit

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