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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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stehengelassen, sondern hörte erst eine Entschuldigung und dann die
Wiederholung.
    Für einen erwachsenen Mann war das Land direkt angenehm.
    Einen Versuch wollte John aber noch machen. Ein möglicher
Förderer des Bilderwälzers war unter den Mitgliedern der Lesegesellschaft der
Apotheker Beesley, ein zartgesichtiger Kräutersammler, wohlhabend und von
leidenschaftlichem Wesen. Seine Liebe galt der englischen Geschichte. Er hörte sich
Johns Bericht über die Erfindung genau an.
    Â»Ein guter Einfall! Ich bin neugierig, ob er funktioniert.«
    Irgend etwas schien ihn aber zu stören. »Sagen Sie, Mr. Franklin,
wie kommt Dr. Orme auf Geschichtsbilder? Den Geist der Zeiten kann man mit
Bildern nicht fassen.«
    John befürchtete schon jetzt, daß Mr. Beesley recht hatte.
    Â»Geschichte, ernsthaft betrieben, gehört zum Ungewissen. Und ein
Bild ist etwas Gewisses.«
    Behauptungen, die einen Gegensatz aufstellten, klangen im ersten
Moment immer richtig, jedenfalls für Johns Ohren. Aber er wollte nicht klein
beigeben. Darum sprach er eindringlich von der Besserung des Menschen durch
gute Beispiele.
    Â»Den Menschen bessern! Das können nur dreierlei Dinge: das Studium
der Vergangenheit, die gesunde Lebensweise in der Natur und bei Krankheiten die
Arznei. Alles andere bessert nicht, es ist nur Politik oder Zerstreuung.«
    John wurde klar, daß er diesem Apotheker nicht imponieren konnte. Ob
er ihm vom Nordpol erzählen sollte? Aber er sah die Art der Antwort voraus. Daher
sprach er nur ein wenig über sich selbst. Beesley freute sich und wurde
väterlich.
    Â»Bei der Beschäftigung mit Geschichte ist Langsamkeit ein Vorzug.
Der Forscher verzögert die rasenden Vorgänge von damals, bis sein Verstand sie
fassen kann. Dann aber weist er dem schnellsten König nach, wie er im Gefecht
hätte handeln sollen.«
    John war verdutzt. Der Apotheker scherzte doch hoffentlich nicht?
Überhaupt hatte er etwas Undurchsichtiges und Entrücktes. Aber schon bald
änderte sich das. Er wurde plötzlich so eifrig, daß John ihn wieder für einen
ehrlichen Mann halten konnte.
    Â»Keine drei Meilen von hier! Engländer gegen Engländer! Und noch
heute kommen aus dem Feld von Winceby ihre Knochen zutage, wenn gepflügt wird.
Es wachsen dort andere Blumen als irgendwo sonst. Das meine ich, Mr. Franklin,
dieses Gefühl! Zu wissen, was im Lauf der Jahrhunderte auf einem Fleck Erde
geschehen kann. Das weitet den Blick und die ganze Person.«
    John wußte jetzt, was den Apotheker wirklich bewegte, und er hatte
Respekt davor.
    Â»Weite des Horizonts«, erklärte Beesley, »ist das Höchste, was ein
Mensch erreichen kann.«
    John versuchte das von der sphärischen Trigonometrie her zu
bedenken, aber Beesley war längst weiter:
    Â»Ich arbeite an einer Geschichte von Lincolnshire mit Berücksichtigung
der edlen Familien«, fuhr er fort, »da gibt es Stammbäume zu verfolgen,
Chroniken zu lesen, Besitzverzeichnisse zu prüfen und sich in hohe Häupter
einzufühlen. Helfen Sie mit!«
    Beesleys Kinn hüpfte beim Sprechen auf und ab wie eine gefangene
Maus, das störte beim Zuhören. John zögerte.
    Â»Geschichte ist der Umgang mit Größe und Dauer. Sie läßt uns über
die Zeit erhaben sein.«
    Â»Nun bin ich aber Seemann«, wandte John ein.
    Â»Und wo ist Ihr Schiff?«
    John dachte nach. Es gab so weniges, bei dem Langsamkeit eine Tugend
war. Sich über die Zeit zu erheben – das lockte. Aber verdienen konnte er damit
nichts.
    John merkte im Lauf der Zeit doch, daß er arbeitslos war
und sich unnütz fühlte. Nie hatte er gedacht, daß ausgerechnet er sich würde
langweilen können. Aber das war jetzt ein anderes Warten als je zuvor: er hatte
einen Beruf, hatte ein Ziel – und nun ging es nicht weiter! Immer wieder
schrieb er nach London, aber außer einer nichtssagenden Vertröstung kam keine
Antwort.
    Fähigkeiten, die man nicht anwandte, existierten nicht. Vielleicht
würden sie sich nie mehr hervorlocken lassen?
    Das Lesen stärkte nur den Tatendurst, statt davon abzulenken. Da
hatte er nun gelernt, auf einem Schiff Kopf und Körper zusammenzubringen, da
war er nun ein guter Offizier und so stark wie nie zuvor und nie danach. Sollte
jetzt nichts mehr kommen? Halbsold, das war nicht nur etwas Halbes, das war ein
zusammenhangloses Nichts und bedrohlich, besonders nachts,

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