Die Entdeckung der Langsamkeit
vermuteten die Damen der feinen Londoner
Gesellschaft und lieÃen sich mit der Kutsche hinfahren, um sie zu besichtigen.
Jeder behauptete, über die Orders der Expedition Bescheid zu wissen.
Der eine wollte es in der Admiralität selbst erfahren haben, der andere von
Kapitän Buchan, dem Leiter der Unternehmung. Einige beriefen sich auf Leutnant
Franklin, den Kommandanten der Trent. Andere
zweifelten: »Franklin? Der sagt nie was!«
»Ein langsamer Kapitän, so etwas geht gar nicht«, sprach
Midshipman George Back, »wie soll das erst werden, wenn wir unterwegs sind?«
Andrew Reid sah seinen Freund bewundernd an. Er widersprach nur, um das
Gespräch fortzusetzen: »Aber die Hühner waren schnell wieder von Bord, George.«
»Es wird sich als Fehler erweisen. Hühner sind Frischfleisch! Das
ist noch das wenigste. Wenn er spricht, tritt immer zunächst eine Pause ein.
Wie will so jemand Befehle geben?«
Sie kamen frisch aus der Marineschule und wuÃten genau, worauf es
ankam. Back hatte für Franklin auch einen Spitznamen: Käptân Handicap.
Die erste Nacht an Bord. John Franklin hatte Fieber und
fröstelte. Im Halbschlaf hörte er zahllose Stimmen, die Unverständliches
mitteilten, Entscheidungen verlangten oder Kritik an etwas übten, was er
angeblich angeordnet hatte. Er warf sich hin und her, knirschte im Traum mit
den Zähnen, schwitzte die Decke durch. Morgens schmerzten seine Nackenmuskeln,
mit schiefem Hals tappte er aus der Kajüte.
Furcht war das, nichts als Furcht, aber schwer zu besiegen. Er ging
schweigend durch das ganze Schiff, erwiderte GrüÃe, nahm Meldungen entgegen und
versuchte, sich von einem Mitglied der Horncastler Lesegesellschaft zu einem
Kommandanten zu entwickeln. Er kannte das von früher: die Angst, nichts mehr zu
verstehen, nichts mehr zu können und auch nicht zur Gegenwehr fähig zu sein,
wenn man ihn einfach überging. Die Angst, daà niemand sich seinem Tempo
anpassen würde und daà er bei dem Versuch, sich dem der anderen anzupassen,
elend scheitern würde.
Nur 250Â Tonnen hatte die Trent, aber im Augenblick
schien sie ihm riesiger und unbegreiflicher als sein allererstes, das
Handelsschiff auf der Reise nach Lissabon vor achtzehn Jahren. Diese Art der
Angst war ihm vertraut. Sie war bisher stets von der Gewohnheit verjagt worden,
jede Sache zu Ende zu bringen, mit oder ohne Glück. Aber nun kam noch eine
andere Angst hinzu: Wenn er jetzt sterbenskrank wurde, unterging oder abgelöst
wurde, hatte er jahrzehntelang umsonst gewartet und gekämpft.
Die Kraft, Ruhe und Zuversicht, die er auf der Bedford nach der Schlacht von New Orleans gefunden hatte, schien sich verborgen zu
halten â jedenfalls kam sie nicht auf Kommando wieder. Auch fehlte der Nimbus:
eine Narbe, deren Geschichte keiner kannte, half ihm nicht mehr.
Ein gutes Mittel gegen Angst hieÃ: lernen. Als erstes
lernte John die Instruktion der Admiralität.
Der Nordpol war nicht das Ziel der Reise, sondern nur eine von
mehreren Stationen. Er war für die Krone nur interessant, sofern er in einer
offenen See lag, durch die man zum Pazifik segeln konnte.
Ein Walfänger hatte berichtet, die Eisfelder des hohen Nordens
lösten sich immer mehr auf. Sekretär Barrow hatte auf diese Nachricht gehofft.
Er verkündete sofort, er und ein gewisser Franklin hätten schon längst an ein
offenes Polarmeer geglaubt. Die Expedition, zunächst nur belächelt, schien
plötzlich jedermann äuÃerst wichtig.
Dorothea und Trent sollten zwischen Spitzbergen und Grönland hindurch-, dann über den Pol hinweg
zur BehringstraÃe segeln und auf der Halbinsel Kamtschatka den Hafen
Petropaulowski anlaufen, in dem seinerzeit Cook gelandet war. Duplikate der
Logbücher, Reisenotizen und Karten sollten von dort auf dem Landweg nach
England geschickt werden, während die Schiffe nach den Sandwich-Inseln fuhren,
dort überwinterten und im nächsten Frühjahr nach England zurückkehrten, am
besten gleich wieder über den Nordpol.
Es gab noch eine zweite Expedition, die versuchen sollte, direkt am
Rand des nordamerikanischen Kontinents entlang zum Pazifik zu finden. Aber man
hielt diesen Weg für den beschwerlicheren.
Was diese Politiker und Kaufleute so interessierte! John legte das
Schreiben auf den Kajütentisch und versetzte es mit dem Finger in drehende
Bewegung. In seinem Hals klopfte die Aufregung.
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