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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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wenn er wachlag wie
ein lebender, trauriger Bilderwälzer.
    Von Flora Reed, der Witwe eines Predigers, hieß es, sie
sei radikal. Sie besaß Robert Owens Schrift »Neue Ansicht über die
Gesellschaft«, und in Streitgesprächen mit Apotheker Beesley zitierte sie
daraus.
    John saß mit Mrs. Reed einen ganzen Nachmittag im Fighting Cocks Inn zu Horncastle. Sie war angenehm und
respektvoll. Nur mit dem, was sie sagte, hatte er Mühe.
    Für bewegte Bilder war auch sie nicht zu gewinnen, denn sie fand:
»Hunger und Not sind ohne Hilfsmittel zu begreifen. Es genügt die simple
Wahrheit für alle, die hören und lesen können. Wer das nicht kann, Mr.
Franklin, wird auch durch Ihren Apparat nicht klüger.« Irgend etwas daran war
nicht logisch.
    Jetzt ließ sie Dünnbier und Kuchen auftragen. John war froh über die
Unterbrechung, denn das Zuhören war anstrengend. Mrs. Reeds Stimme war leise,
und wenn sie temperamentvoll wurde, verstärkte sich nicht etwa die Lautstärke,
sondern nur ihr Lispeln. Das Haar war glatt und schwarz, das Antlitz milde. Die
Augen blitzten auf, wenn sie eine Gefahr erkannten.
    Â»Der weite Horizont? Hat das Beesley gesagt? Ich nehme an, er kam
wieder vom Kräutersammeln auf die Geschichte. Mr. Franklin, der Horizont liegt
vor uns, nicht hinter uns! Er ist immer dort, wo es weitergeht, habe ich
recht?«
    Als Navigator hatte John Einwände, aber er mochte Mrs. Reed nicht
kränken. Sie war auch schon woanders.
    Â»Denken Sie an die Kornzölle! Frankreich hat eine gute Ernte in den
Scheunen, es könnte mit seinem Überschuß helfen. Kein Mensch müßte hungern!«
    Sie sah ihn freundlich, aber so ganz direkt an. John überlegte, ob
sie ihm gern in die Augen blickte, oder ob das nur der starre Blick war, mit
dem sie den Zusammenhang ihrer Argumente überwachte. Hätte sie doch nur etwas
lauter gesprochen!
    Â»â€¦Â und warum sind die Grenzen geschlossen? Weil die Grundbesitzer an
der Knappheit verdienen, und allein die Grundbesitzer bilden das Parlament!«
    Â»Mrs. Reed, ich bin seit Trafalgar etwas schwerhörig. Die Kanonen.«
    Â»Dann komme ich näher«, sagte sie, ohne die Stimme zu heben.
    Â»Jetzt zu den Armen: sie zünden die Scheunen an und vergrößern die
Knappheit noch. Blindheit hier, Habsucht dort, das ist der Horizont. Wollten
Sie etwas sagen?«
    Â»Nein, sprechen Sie ruhig weiter.« John merkte, daß er das alles
lieber irgendwo nachlas, es ging ihm zu geschwind. Aber Flora Reed gefiel ihm.
Wie lange der Prediger wohl schon tot war?
    Â»â€¦Â Salzsteuer, Brotsteuer, Zeitungssteuer, Fenstersteuer. Aber
dieses Geld fließt indirekt doch nur wieder –«
    Â»Moment, Mrs. Reed, ich –«
    Â»Doch, Mr. Franklin! Denn es herrscht die nackte Not. Sehen Sie sich
um! Wilderer, Diebe, Schmuggler überall, und warum? Weil ihnen gar nichts
anderes –«
    Â»Ich glaube, das möchte ich lieber irgendwo –«
    Â»Wenn den Grundbesitzern das Gewissen schlägt! Erst dann und keine
Minute vorher!«
    Â»Ja, das denke ich auch«, nickte John, »aber ich war zu lange auf
See, ich weiß vieles noch nicht so genau …«
    Während er sprach, hatte Mrs. Reed ein Stück Kuchen in den Mund
geschoben. Sie kaute und sah John freundlich an, bis sie fortfahren konnte.
Lächelnd sagte sie:
    Â»Kein Bilderapparat, Mr. Franklin, keine Geschichte! Eine Zeitung,
in der die Wahrheit steht, eine Liga gegen die Armut und für das Wahlrecht der
Armen – so etwas müssen wir zustandebringen!«
    John empfand diese Entschiedenheit als sehr angenehm. Wenn Flora
seine Hand ergriff, konnte er keines ihrer Worte mehr anzweifeln. Etwas
Löwenhaftes hatte sie, und zierlich sah sie aus, wenn sie schwieg. Aber auch
dann sah sie ihn mit ihren hellen Augen so fest an, daß er fest zurückschauen
mußte.
    Â»Wissen Sie, was mir an Ihnen gefällt, Mr. Franklin? Bei den meisten
geht es schnell, bis sie begriffen haben, aber wenn es soweit ist, dann ist es
auch schon wieder vorbei. Da sind Sie anders. Kämpfen Sie mit, es ist Menschenpflicht!«
    Die Wahrheit, dachte er. Das war das Entscheidende. Bei einer
wahrheitsliebenden Zeitung spielte es keine Rolle, ob der Redakteur etwas
langsam war. Verdienen konnte er damit zwar auch nichts … »Gut«, sagte er.
    Er hatte im Krieg darunter gelitten, daß er bei schnell hereinbrechender
Not

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