Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
Vom Netzwerk:
des gesamten Organismus herbeigeführt. Bei einigen Versuchstieren hat man ihn schon verwirklichen können, und einzellige Organismen (zu denen in einem gewissen Sinne auch die Samenzellen, darunter auch die menschlichen, gehören) kann man durch Einfrieren sehr lange, vielleicht sogar beliebig lange in diesem Zustand erhalten. Die Befruchtung einer Frau mit dem Samen eines Mannes, der vielleicht schon vor vielen hundert Jahren gestorben ist, zeichnet sich damit als eine durchaus reale Möglichkeit ab.
       Große Schwierigkeiten bereitet es, einen so komplexen Organismus wie den des Menschen (oder überhaupt der Säugetiere unter den Gefrierpunkt des Wassers abzukühlen, da die Gewebsflüssigkeit die Tendenz hat, in Form von Eis zu kristallisieren und diese Reaktion zur Zerstörung lebenswichtiger Strukturen des Protoplasmas führt. Doch sind diese Schwierigkeiten nicht unüberwindlich Man darf annehmen, daß es gelingen wird, eine Technik des Einfrierens zu entwickeln, bei der die Möglichkeit einer späteren Wiedererweckung zu einem beliebigen Zeitpunkt nahezu hundertprozentig ist. In sie werden nicht geringe Hoffnungen gesetzt unter anderem im Hinblick auf lange kosmische Reisen. Allerdings vermag diese Technik im Lichte unserer bisher erwogenen Gedankenexperimente einige Zweifel zu wecken. Haben wir es wirklich mit einem reversiblen Tod zu tun? Ist es nicht möglich, daß das eingefrorene Individuum für immer stirbt und der, den wir wieder auferwecken, gewissermaßen nur eine Kopie ist? Es scheint, als handele es sich um ein und dasselbe Individuum. Schließlich wurden ja die Lebensprozesse nur angehalten, so wie man den Mechanismus einer Uhr anhält. Ihr Wiederingangsetzen ist gleichbedeutend mit einer Wiederbelebung. Im übrigen kommt es ja nicht zu einer völligen Erstarrung jener Prozesse. Bekanntlich verhält es sich mit diesen Phänomenen ein wenig wie mit jener Scheibe, deren sieben Sektoren die Farben des Spektrums zeigen. Solange sie stillsteht oder sich nur langsam dreht, erkennen wir die einzelnen Farben. Bei wachsender Umdrehungszahl beginnen sie zu verflimmern, und bei einer bestimmten Geschwindigkeit verschmelzen sie zu einem einheitlichen Weiß. Ähnlich ist es mit dem Bewußtsein. Die Prozesse, welche seine Grundlage bilden, müssen ein bestimmtes Tempo haben, unterhalb dessen das Bewußtsein sich zu trüben beginnt, bis es schließlich, längst bevor die biochemischen Reaktionen des Gehirns tatsächlich zum Stillstand kommen, verfällt. Das Bewußtsein erlischt also, ehe die Stoffwechselprozesse stillstehen, die wiederum, wenngleich nicht alle, überaus langsam weitergehen können, auch wenn sie praktisch aufgehört haben. Unmittelbar am absoluten Nullpunkt der Temperatur kommen sie allerdings wirklich zum Stillstand, und der Organismus altert nicht mehr. Wie dem aber auch sei — sämtliche Strukturen des lebenden Gewebes bleiben erhalten. Damit ist die Einfriermethode gleichsam vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Führen wir jedoch noch ein weiteres Gedankenexperiment durch. Angenommen, wir hätten unseren Smith beinahe bis zum absoluten Nullpunkt abgekühlt. Dabei wird sein Gehirn wie alle übrigen Organe des Körpers zur kristallinen Struktur. Außer den winzigen Schwingungen, welche die Atome selbst auf dem niedrigsten energetischen Niveau noch erkennen lassen, stellen wir im Elektronenmikroskop keine Bewegungen fest. Die durch die Kälte eingefangenen, unbeweglichen und daher leichter zugänglichen Atome des Gehirns von Herrn Smith können wir nun nach und nach einzeln aus seinem Schädel herauslesen und auf entsprechende Behälter verteilen. Der Ordnung halber legen wir die Atome der verschiedenen Elemente gesondert ab. Nun werden sie — sicherheitshalber weiterhin in der Eiseskälte von flüssigem Helium — aufbewahrt, bis wir sie schließlich zu gegebener Zeit wieder zusammenfügen, wobei wir jedes genau dort einpassen, wo es hingehört.
       Das nunmehr vollständige, aber immer noch eingefrorene Gehirn wird jetzt einschließlich des Körpers mit wirksamen Wiederbelebungsnethoden behandelt. Nachdem er aufgetaut ist, erhebt sich Herr Smith, kleidet sich an und geht nach Hause. Wir haben nicht den geringsten Zweifel, daß es tatsächlich er persönlich war. Auf einmal stellt sich heraus, daß unser Laborant sämtliche Reagenzgläser zerbrochen hat, in denen sich in Gestalt eines feinen Pülverchens die Atome von Kohle, Schwefel, Phosphor und allen anderen Elementen befanden,

Weitere Kostenlose Bücher