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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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das man als Persönlichkeitsspaltung bezeichnet. Allerdings ist die Spaltung niemals so vollständig, wie es nach unterschiedlichen Darstellungen in der Literatur den Anschein hat. Man kann jedoch am lebenden Gehirn einen Trennungsschnitt vornehmen, in dessen Folge zwei praktisch unabhängige Zentralnervensysteme innerhalb einer Schädelkapsel koexistieren. Daß ein Körper zwei Köpfe haben kann, wissen wir, denn zum einen gibt es solche Mißgeburten, die zuweilen noch eine gewisse Zeit leben (auch bei Menschen kam das vor), und zum anderen wurde ein solcher Zustand schon des öfteren durch künstliche Eingriffe (in der Sowjetunion zum Beispiel an Hunden) geschaffen.
       Den Zustand, daß ein Gehirn in zwei autonome und gesondert arbeitende Teile aufgetrennt war, hat man durch neurochirurgische Eingriffe z. B. an Affen realisiert. Man muß dazu den großen Balken, der die beiden Hemisphären des Gehirns miteinander verbindet, möglichst gründlich durchtrennen. Stellen wir uns vor, an Herrn Smith sei ein solcher Eingriff durchgeführt worden. Die Trennung der Hirnhälften erfolgte schrittweise und ganz allmählich, um eine unverhoffte Störung der Hirnfunktionen zu verhindern und um jeder der beiden Hemisphären, während sie sich von der anderen unabhängig machte, Zeit zu lassen, sich von dem Schock, den ein so grausamer Eingriff zweifellos hervorgerufen haben muß, vollständig zu erholen. Nach einer gewissen Zeit gibt es im Kopf von Herrn Smith zwei funktional voneinander unabhängige Gehirne. Das scheint auf das uns bereits bekannte Paradoxon hinauszulaufen. Affen, an denen solche Operationen durchgeführt wurden und die man genau untersuchte, verhielten sich so, als besäßen sie zwei relativ autonome Gehirne, wobei entweder eines von ihnen ständig dominierte und die nachgeordneten Systeme absteigender Nervenbahnen und damit auch den ganzen Körper beherrschte oder die beiden »schlossen sich« abwechselnd an diese Bahnen an und regierten den Körper wechselweise. Doch Affen kann man selbstverständlich nicht nach ihren subjektiven Zuständen befragen. Anders bei Herrn Smith. Nehmen wir (im Gegensatz zur anatomischen Wahrheit, aber im Interesse unserer Überlegung) an, die beiden getrennten Hirnhemisphären seien vollkommen gleichwertig (tatsächlich dominiert in der Regel bei jedem normalen Menschen die linke Hemisphäre). Jede von ihnen enthält die gleichen Gedächtnisaufzeichnungen und die gleiche Persönlichkeitsstruktur, die zuvor das gesamte Gehirn enthielt. Die Frage, welche Hemisphäre die Fortsetzung von Smith darstellt, welches dieser beiden Gehirne der »wahre Smith« ist, erweist sich als sinnlos. Wir haben es mit zwei analogen Smiths in einem Körper zu tun. Der infolge des materiellen Eingriffs in zwei Teilbahnen aufgetrennte dynamische Bewußtseinsverlauf erzeugt zwei unabhängige Persönlichkeiten, die jedoch beide berechtigt sind, sich als Fortsetzung der ursprünglichen Persönlichkeit zu betrachten. In diesem Falle ist also die Vervielfältigung zur Tatsache geworden. Zwischen diesen Systemen kann es natürlich zu Konflikten kommen, denn sie besitzen ja nur einen gemeinsamen Organismus, ein sensorisches und effektorisches (muskuläres) System. Wenn wir nun aber durch einen neuen Eingriff diese beiden Hemisphären, die mittlerweile als vollwertige Gehirne funktionieren, auf zwei dafür vorbereitete Körper übertragen, bekommen wir zwei nunmehr auch physisch getrennte Smiths. Es besteht also, auch wenn wir uns das nicht sinnfällig vorzustellen vermögen, die reale Möglichkeit, eine Persönlichkeit zu vervielfältigen. Vom Standpunkt desjenigen aus, der den Empfangsapparat verläßt, ist er und nur er die rechtmäßige, normale und überaus lebendige Fortsetzung des »Telegrafierten« — und wir haben keinen Grund, diese Überzeugung in Zweifel zu ziehen.
       Man kann also einen Menschen in viele Richtungen gleichzeitig verschicken. Das heißt nicht, daß er in allen Personen einer ist. Von »ihm« wird es so viele geben, wie atomare Kopien hergestellt wurden. Die vielfache Fortsetzung des Individuums wird zur Tatsache.
       Das ist jedoch nur das erste Paradoxon, und, um auch das zu sagen, das verhältnismäßig primitivste.
       Es zeigt sich nämlich, daß es bei der »existentiellen Relativität« zu einem merkwürdigen Fall kommt, der ein wenig an die Relativität der Messung in Einsteins Theorie erinnert, wo das Resultat der Messung von dem gewählten Bezugsrahmen
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