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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität.
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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abhängig ist. Wie wir ja schon wissen, ist vom Standpunkt der Smiths aus, die aus den Empfangsgeräten hervortreten, jeder von ihnen eine Fortsetzung des telegrafisch abgeschickten. Doch vom Standpunkt des Herrn Smith, den wir abgeschickt haben, ist keine dieser Personen seine Fortsetzung.
       Wie vollzieht sich eigentlich dieses »Abschicken«? Herr Smith betritt die Kabine des Apparats, in dem sein »atomares Signalement« hergestellt wird, etwa derart, daß er mit sehr harter Strahlung durchleuchtet wird. Den so gewonnenen »atomaren Plan« übermitteln wir telegrafisch. Kurz darauf beginnen in Dörfern und Städten unzählige Smiths aus den Empfängern hervorzutreten.
       Doch was ist mit dem Original? Wenn er aus der Kabine kommt, in der wir die »Inventarisierung« seiner Atome vorgenommen haben, hat er sich ganz offensichtlich nicht von der Stelle gerührt, sondern ist weiterhin dort, wo er bisher war. Und selbst wenn an den Empfangsgeräten Millionen seiner Kopien ins Dasein treten sollten, ändert das die Situation des Original-Smith nicht im geringsten: wenn wir ihm von alldem nichts erzählen, geht er nach Hause und hat nicht die leiseste Ahnung, was überhaupt passiert ist. Daraus folgt also, daß wir das »Original« vernichten müssen, und zwar gleich nach vollzogener »atomarer Bestandsaufnahme«. Wenn wir uns in die Lage von Herrn Smith versetzen, begreifen wir unschwer, daß seine Zukunftsaussichten bei der telegrafischen Reise durchaus nicht rosig sind. Für ihn bedeutet sie im Grunde, daß er in der Kabine umkommen wird, daß es mit ihm ein für allemal aus sein wird, während aus den Empfängern Leute herauskommen, die ihm vollkommen gleichen, nicht aber er selbst. Es ist nämlich so: Zwischen jedem Zustand eines Menschen und seinem vorherigen Zustand besteht ein enger kausaler Zusammenhang. Im Zeitpunkt T empfinde ich einen süßen Geschmack, weil mir im Zeitpunkt T ein Zuckerwürfel auf die Zunge gelegt wurde. Zwischen Herrn Smith und seiner atomaren Personenbeschreibung besteht ebenfalls ein kausaler Zusammenhang: eine bestimmte Beschreibung kam dadurch zustande, daß wir auf den Körper von Smith in einer bestimmten Weise eingewirkt haben, und diese Einwirkung ermöglichte es, die Information über den Aufbau von Herrn Smith vollständig zu übermitteln. Ein informationaler und kausaler Zusammenhang besteht gleichfalls zwischen der atomaren Personenbeschreibung und den aus den Empfängern herauskommenden »Kopien«, weil sie genauso aufgebaut wurden, wie es die Rezeptur der »Personenbeschreibung« vorschrieb. Doch welche Zusammenhänge bestehen zwischen all diesen Umwandlungen (Smith als lebender Organismus, Smith als abgesandte Information und die zahlreichen Smiths, die gemäß dieser Information nachgebaut wurden) und dem Tod von Herrn Smith, den wir gleich nach der Aufstellung seiner atomaren Personenbeschreibung herbeigeführt haben?
       Um es deutlich zu sagen, besteht zwischen dem einen und dem anderen nicht der geringste Zusammenhang. Wenn wir von dem an der Wand hängenden Rembrandt eine atomare Kopie herstellen, kann jemand sagen: ich erkenne das Original an seiner Lage; es hängt an der Wand, und somit ist das andere Bild auf der Staffelei die Kopie. Wenn wir das Original verbrennen, wird es keiner mehr finden. Wir haben den einzigen Gegenstand vernichtet, der es gestattet hätte, den Originalcharakter der atomaren Kopie anzuzweifeln. Die Kopie ist dadurch jedoch nicht zum Original geworden in dem Sinne, daß sie sich in jenen Gegenstand aus Holz und Leinwand verwandelt hätte, den der berühmte holländische Maler vor einigen Jahrhunderten mit Farben bedeckte. Empirisch ist sie vom Original nicht zu unterscheiden, doch ist sie es nicht, weil sie eine andere Geschichte hat.
       Wenn wir Smith töten und ihm dabei versichern, er werde in Kürze an Millionen Orten gleichzeitig die Augen wieder aufschlagen, muß man das als eine Schandtat bezeichnen: als einen Mord, dessen Spuren »kybernetisch« verwischt wurden, und das im Übermaß, denn an die Stelle des einen, ermordeten Individuums tritt eine Unmenge von Individuen, die ihm exakt gleichen.
       Wenn wir einen Menschen telegrafisch verschicken wollen, reicht es also nicht aus, seine atomare Personenbeschreibung aufzugeben, sondern es ist darüber hinaus unausweichlich, daß wir diesen Menschen töten; damit ist der verbrecherische Charakter dieses Vorhabens wohl offensichtlich. Nehmen wir - um die Sache ganz
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