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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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ganze Lehrgang sei mit ihr geflogen. Niemand wußte zu sagen, wie sie immer wieder zurückkehrte, denn nach dem Versuchsflug verließ man das Institut und ging nach Norden, zur Basis, wo die Paukerei für das Schlußexamen begann. Wie dem auch sei — sie kam jedenfalls immer wieder zurück. Wer weiß, vielleicht wurde sie mit dem Fallschirm abgeworfen. Es war ja nur ein Scherz.
       Pirx stand auf dem federnden Brett über einem vierzig Meter tiefen Abgrund und verkürzte sich die Zeit, indem er überlegte, ob man ihn wohl »filzen« würde, was leider hin und wieder vorkam. Die Kadetten nahmen zu den Versuchsflügen die merkwürdigsten Dinge mit, auch solche, die streng verboten waren: flache Schnapsfläschchen, Kautabak, Mädchenfotos — von Spickkladden ganz zu schweigen. Pirx hatte lange nach einer Stelle gesucht, wo er die Kladde verbergen konnte. Er hatte sie wohl an die fünfzehnmal versteckt — im Schuh unter der Ferse, zwischen beiden Socken, im Schaft, in der Innentasche der Kombination, in dem kleinen Sternatlas, den man mitnehmen durfte ... Auch ein Brillenfutteral hätte sich gut geeignet, aber erstens hätte es riesengroß sein müssen, und zweitens trug er keine Brille. Als Brillenträger — das fiel ihm erst ein wenig später ein — hätte man ihn im Institut gar nicht aufgenommen.
       Er stand also auf dem stählernen Podest und wartete auf den Chef und die beiden Instrukteure, die sich aus irgendeinem Grunde verspäteten. Es war bereits neunzehn Uhr siebenundzwanzig. Der Start war auf neunzehn Uhr vierzig angesetzt. Ein Stückchen Heftpflaster müßte man haben, dachte Pirx. Damit könnte man sich die Kladde unter den Arm kleben. Der kleine Yerkes soll das versucht haben. Ich bin kitzlig! soll er geschrien haben, als der Instrukteur ihn berührte. Er hatte eben Glück... Aber er, Pirx, sah nicht so aus, als wäre er kitzlig. Nein, nein, er machte sich keine Illusionen, und deshalb hielt er die Spickkladde ganz einfach in der Rechten. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er diese Hand den beiden Instrukteuren und dem Chef zum Gruß reichen mußte. Sofort wechselte er die beiden Gegenstände aus, er nahm das Navigationsbuch in die rechte und die Kladde in die linke Hand. Durch diese Manipulation hatte er das stählerne Podest in Schwingungen versetzt, so daß es wie ein Sprungbrett schwankte. Plötzlich vernahm er Schritte auf der anderen Seite. Er hatte die drei nicht gleich bemerkt, denn es war dunkel unter der Hallendecke.
       Wie bei solchen Anlässen üblich, waren alle in Uniform, geputzt und geschniegelt, vor allem der Chef. Er, der Kadett Pirx, trug eine Kombination, die aussah wie zwanzig Footballdresse zusammengenommen, obwohl sie noch gar nicht aufgeblasen war. Von beiden Seiten des hohen Kragens hingen die langen Enden des Interkoms und des äußeren Radiophons herab, am Hals baumelte eine Schlange, die in den Schlauch des Sauerstoffgeräts überging, und auf dem Rücken fühlte er den Druck der Reserveflasche. Ihm war unerträglich heiß in der zweifachen Schweißschutzwäsche, am meisten machte ihm aber die Einrichtung zu schaffen, die dazu diente, daß man während des Fluges zur Verrichtung der Notdurft nicht hinauszugehen braucht (übrigens wäre das in einer einstufigen Rakete, in der die Versuchsflüge unternommen wurden, gar nicht so einfach gewesen).
       Auf einmal begann das ganze Gerüst zu schwanken. Jemand nahte von hinten — Boerst, in der gleichen Kombination; er salutierte stramm mit seinem großen Handschuh und blieb in dieser Haltung stehen, als ob er Pirx hinunterstoßen wollte.
       Als die anderen vorangingen, fragte Pirx verwundert: »Was, du fliegst auch? Hast du denn auf der Liste gestanden?«
       »Brendan ist erkrankt. Ich fliege für ihn«, erwiderte Boerst.
       Pirx war ein wenig verlegen. Das war das einzige, aber wirklich das einzige, wodurch er wenigstens um einen Millimeter den sphärischen Regionen näher kam, in denen Boerst so lebte, als ob ihm das nicht die geringste Mühe bereitete. Boerst war der Begabteste des ganzen Lehrganges, und Pirx verzieh ihm das leicht, ja er empfand für dessen mathematisches Talent sogar eine gewisse Hochachtung, seit er erlebt hatte, wie tapfer er mit dem Elektronenkalkulator gekämpft und erst bei den Wurzeln vierten Grades an Tempo verloren hatte. Boerst war der Sohn begüterter Eltern, er hatte es überhaupt nicht nötig, von Zweikronenstücken zu träumen, die eventuell in alten Buxen verborgen waren.

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