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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Müllabfuhr. Sie war mit ihm dem Müllwagen hinterhergerannt und sah gerade noch, wie sich zwei Straßen weiter der Ladebehälter kreischend aufrichtete und Liesje mit allem Dreck und Unrat der Welt zermahlen wurde –. Sie watete durch Tauben, überquerte den Dam und wurde von einem warmen Luftstrom empfangen, als sie das Kaufhaus Bijenkorf betrat. Ziellos schlenderte sie eine Weile zwischen Frauen umher, die an ihren Handrücken rochen oder fette rote Streifen darauf malen ließen, nahm dann die Rolltreppe und ließ den Raum langsam in der Tiefe versinken. Davon wurde ihr leicht übel, vielleicht sollte sie etwas essen. An einem hohen Tischchen in der Cafeteria aß sie im Stehen ein Brötchen mit Speckbückling und schlenderte anschließend zur Spielwarenabteilung, wo sie sich von Dutzenden von Puppen betrachten ließ, die eine mit einem noch stumpfsinnigeren Blick als die andere. Keine von ihnen hatte auch nur im entferntesten Ähnlichkeit mit Liesje. In einem Regal stand ein Kontingent russischer Mamuschkas in allen Größen: buntbemalte Bäuerinnen, die aufgeschraubt werden konnten und eine immer noch kleinere Mamuschka enthielten. Ihr Blick fiel auf eine Schachtel voller kleiner Bäuerinnen, alle im selben Stil, handbemalt und nicht größer als fünf Zentimeter, die unter ihren Röcken jedoch einen Anspitzer verbargen. Ada lächelte. Das war das richtige für Max zu seinem Geburtstag im November: eine Frau mit einem derartig angsteinflößenden Geschlechtsteil – genau die richtige Lektion für ihn. Fl.1,05 stand auf dem kleinen Preisschild. Zögernd hielt sie die Anspitzer-Mamuschka in der Hand. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, daß sie ihr bereits gehörte und sie diesen Besitz gefährden würde, wenn sie ihn bezahlte. Sie sah sich um, schloß die Hand um die Puppe, ging weiter und ließ sie kurz darauf in der Tasche ihres Regenmantels verschwinden. Ihre Tat erfüllte sie mit amüsierter Genugtuung. Sie mußte an Onnos These denken, derzufolge der Gewinn von hunderttausend im Lotto viel befriedigender war als der Verdienst derselben Summe, und daß eben deshalb das Glücksspiel verboten werden sollte. Auch als Kind hatte sie nie etwas geklaut, und es wunderte sie, wie einfach das war. Ab und zu berührte sie die Puppe und ging in die Lebensmittelabteilung, wo sie die Einkäufe für den Abend erledigte. Seit sie bei Onno wohnte, hatte sie mehr Verständnis für ihre Mutter; jeden Tag wieder neu zu überlegen, was auf den Tisch kommen sollte, war schlimmer als Tonleitern üben, und dabei hatte sie mit Onno noch Glück, denn er aß am liebsten jeden Abend dasselbe. Sie bezahlte die Makkaroni, den Schinken und die Milch und schob sich zum Ausgang. Draußen dämmerte es bereits. Als sie durch die Drehtür gegangen war, versperrte ihr plötzlich ein Mann den Weg. »Würden Sie bitte so freundlich sein, mir zu zeigen, was Sie in Ihrer Manteltasche haben?«
    Erschrocken sah sie auf seinen Ausweis, den er ihr vorhielt und auf dem sein Gesicht ganz anders aussah: freundlicher, entspannt zu etwas Angenehmem aufschauend; jetzt begegnete sie einem Blick aus Stein. Beschämt händigte sie dem Mann den Anspitzer aus. »Wurde das nicht für Sie eingepackt? Dürfte ich den Kassenzettel sehen?«
    »Ich habe keinen.«
    »Kommen Sie bitte mit.«
    Leute drehten sich nach ihr um, Straßenbahnen und Autos fuhren vorbei, auf der anderen Straßenseite sah sie eine Aufschrift: De Roode Leeuw, und plötzlich verschwand diese selbstverständliche Welt der Freiheit hinter dem Horizont, denn sie mußte wieder in das Gebäude hinein. »Ich werde ihn bezahlen«, sagte sie. »Das müssen Sie mit jemand anderem regeln. Bitte nach Ihnen.«
    Durch eine unauffällige Tür hinter den glitzernden Ladentischen mit den Kosmetika gelangten sie in einen neonbeleuchteten Betongang, wo es von einem auf den anderen Augenblick vorbei war mit dem süßen Dasein. Durch eine Stahltür wurde sie in einen kahlen, fensterlosen Raum geführt, in dem nur ein langer Tisch und einige Stühle standen. Sie hatte erwartet, daß der Mann ihr folgen würde, aber die Tür wurde hinter ihr geschlossen und der Schlüssel umgedreht. Erschrocken sah sie sich um. Sie war eingesperrt! Das aufkommende Gefühl der Verzweiflung unterdrückte sie. Was konnte ihr wegen 1,05 Gulden schon passieren? Das Einsperren war die übliche Prozedur zur Einschüchterung, gleich würde irgendein Angestellter erscheinen, sie würde eine Verwarnung bekommen, würde bezahlen müssen

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