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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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und könnte gehen. Aber solange sich die Tür nicht aufgetan hatte, war sie noch zu. Sie stellte ihre Einkaufstasche auf den Tisch und setzte sich. In einem Film würde sie nun rufen, sie wolle ihren Anwalt sprechen. Heerscharen von Männern, Frauen und Kindern waren vor ihr hiergewesen. Die Tischplatte war aus schmuddeligem Kunststoff und hatte überall tiefe Löcher, auf dem Flur hörte sie ab und an Stimmen und das Rattern von Wagen, mit denen offenbar neue Ware herangefahren wurde. Sie sah auf die Uhr und dachte an Onno, der jetzt in seinem Zimmer grübelte und keine Ahnung hatte, daß sie in die Zelle eines Kaufh auses eingesperrt war. Sie nahm einen Gulden und fünf Cent aus ihren Portemonnaie und legte sie aufeinander. Als nach einer Viertelstunde, nach zwanzig Minuten noch immer niemand erschienen war, schlug plötzlich eine Welle der Angst in ihr hoch. Es war halb sechs vorbei, gleich würden die Läden schließen, vielleicht hatte man sie vergessen! Vielleicht mußte sie bis morgen früh hierbleiben! Schweißgebadet stand sie auf und begann nägelkauend auf und ab zu gehen. Sollte sie an die Tür schlagen? Anfangen zu schreien? Aber vielleicht warteten sie gerade darauf, vielleicht wurde sie von irgendwo her beobachtet. Sie kontrollierte die Zementwände, konnte aber nichts entdecken. Gerade als sie sich vornahm, noch genau fünf Minuten zu warten, wurde der Schlüssel umgedreht. Auf der Schwelle erschien der Wachmann von vorhin in Begleitung eines Polizeibeamten. »Wie ist Ihr Name?«
    Mit großen Augen sah Ada den Mann in der schwarzen Uniform mit den schwarzen Stiefeln und dem schwarzen Schlagstock an der Seite an. »Ada Brons«, stammelte sie und konnte schier nicht glauben, daß sie angezeigt worden war. »Sie geben zu, daß Sie das hier entwendet haben?« fragte er und zeigte auf die Puppe, die der Wachmann in der Hand hielt. Ada nahm die Münzen vom Tisch und bot sie in ihrer geöffneten Hand an. »Hier ist das Geld. Ich bereue es.«
    Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. »Sie müssen mit aufs Präsidium.«
    »Aufs Präsidium?« wiederholte sie perplex. »Wozu?«
    »Um eine Strafanzeige aufzunehmen.«
    Er griff unter seine Uniformjacke, und entsetzt sah Ada, daß er Handschellen hervorholte. Es kam ihr vor, als würde sie der Anblick des glänzenden Stahls im nächsten Augenblick zerreißen. Sie gab auf und warf den beiden Männern das Geld schluchzend vor die Füße. »Ihr seid verrückt! Verrückt!«
    »Nur immer mit der Ruhe, Fräulein, es passiert Ihnen nichts. Das sind nun einmal die Vorschriften.«
    Als die Schellen um ihre Handgelenke zuschnappten, war ihr erster Gedanke, wie sie jetzt noch Cello spielen sollte. Der Platz zwischen ihren Händen reichte nicht einmal für eine Ukulele. Während sie durch die Gänge zum Hinterausgang gingen, trug der Polizeibeamte ihre Einkaufstasche. Draußen war es schon dunkel; auf dem Innenhof stand ein kleiner Überfallwagen mit vergitterten Fenstern. Sie fuhren zum Präsidium in der Warmoesstraat, das um die Ecke lag, am Rande des Rotlichtviertels. Sie wurde am Tresen der Polizeiwache abgeliefert, und ein Beamter nahm ihr die Handschellen ab. Eine dicke, betrunkene Frau mit wirren Haaren schrie einen Polizisten an, der so jung war, daß man ihn für einen verkleideten Schüler halten konnte, und versuchte, Ada in ihren Streit einzubeziehen, verstummte jedoch sofort, als zwei Fahnder einen halb bewußtlosen Mann hereinbrachten, dessen Hemd vorne rot war von Blut. Ada wurde zu Zimmer 21 geschickt, wo sie auf einer Holzbank vor einer ockerfarbenen Tür warten sollte. Mit dem Ablegen der Handschellen waren auch ihre Empörung und ihre Wut verflogen. Sie hatte das Gefühl, als sei sie ins Wasser gefallen, jetzt aber wieder am Ufer. Drinnen wurde sie von einem Beamten hinter einer hohen, schwarzen Schreibmaschine empfangen, die aussah wie der Aufgang zu einem Mausoleum. Väterlich sah er sie an und fragte sie, ob sie sich dieses Vergehens schon einmal schuldig gemacht habe. Warum dann jetzt, mit so einem doofen kleinen Ding, wollte er wissen, aber sie konnte es ihm nicht erklären. Seufzend legte er ein Blatt Kohlepapier zwischen zwei Formulare, klopfte sie auf dem Tisch zurecht und spannte sie
    in die Maschine ein. Als sie sagte, daß sie das reichlich merkwürdig fände, diesen ganzen Aufwand für 1,05 Gulden, sagte er:
    »Es geht nicht um einen Gulden fünf, es geht um einen Ladendiebstahl. Wenn tausend Menschen etwas für einen Gulden fünf klauen und wir

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