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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ohne sich umzudrehen.
    Das Amsterdamer Grau fiel ihr nach all den blendenden tropischen Farben besonders auf, aber es war ihr nicht wirklich unangenehm. Hier war sie zu Hause. Die Menschen sahen unwirsch und unzufrieden drein, es war kühl, die Bäume wurden kahl, und es wurde schon wieder früh dunkel, aber gerade diese Abwechslung der Jahreszeiten kannte man in den Tropen nicht: keinen Herbst, keinen Winter, keinen Frühling – eigentlich nur den Sommer. Waren Chopin oder Strawinsky in einem solchen Klima denkbar? Sie waren jedenfalls nie dortgewesen, und soviel sie wußte, war auf der Insel auch sonst nie etwas Wichtiges erdacht oder erfunden worden. Aber da sie das Gefühl hatte, diese Art von Überlegungen Onno und Max überlassen zu können, verdrängte sie den Gedanken gleich wieder. Sie hatte keine Lust auf die belebten Straßen mit den Straßenbahnen und ging ziellos durch die Spiegelstraat in Richtung Innenstadt. Sie fühlte sich unruhig, plötzlich war sie ungeduldig geworden, als müsse sie noch etwas erledigen, da jeden Augenblick der Besuch klingeln konnte. Ab und zu blieb sie vor dem Schaufenster eines Antiquars stehen und betrachtete einen heiteren, goldglänzenden Buddha mit abwehrend vorgestreckten Händen, eine einsame schmuddeliggrüne japanische Schale auf mausgrauem Samt, die niemand aufheben würde, wenn er sie im Rinnstein liegen sähe, antikes Glas- und Silberwerk und die leuchtenden Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Schönheit in der Welt kannte keine Grenzen, ebensowenig wie die Grausamkeit. Sie hatte ein schmerzhaftes Gefühl in den Brüsten, die Haltung hinter dem Cello machte ihr wieder zu schaffen, ihr Problem von der ersten Cellostunde an, als sie sechs Jahre alt war. Am folgenden Abend spielte sie mit dem Orchester in Den Haag, für März stand eine Tournee durch die Vereinigten Staaten auf dem Programm. Der künstlerische Leiter hatte ihr dringend geraten, über ihren kubanischen Auftritt kein Wort zu verlieren, am besten auch nicht den Kollegen gegenüber, denn das könne die gesamte Tournee gefährden. Wer auf Kuba gewesen war, hatte die Pest, The Red Death, um mit Poe zu sprechen. Sie spazierte die Keizersgracht hinunter zu den schmalen Querstraßen mit den barbarischen Namen, die sie sich nie merken konnte, Berenstraat, Wolvenstraat, wo kleine Geschäfte kleine Dinge feilboten: bunten Schmuck, pseudoantiken Firlefanz, Zigarettenspitzen aus Elfenbein, verrostete Fingerhüte, Puppen mit vergilbten Spitzenkragen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer Lieblingspuppe Liesje: ein kleines, kahles Scheusal mit einem hinterhältigen Blick, das aber gerade deshalb einen unverwechselbaren Charakter hatte, und schon sah sie sich auf der sandfarbenen Kokosmatte sitzen und spielen, sah die Beine des Tisches und die Bauernstühle mit der zerfransten Unterseite der geflochtenen Sitze. Liesje war eine Puppe und zugleich auch keine Puppe. Wenn ihr Ada einen Arm ausriß, wurde in der Schulter ein weißes Gummiband sichtbar; ließ sie ihn los, klappte er mit einem Klick wieder an den Körper, oft in einer unvorhergesehenen Stellung: »Hallo!«, oder: »Schau, dort !« Sie konnte Arme und Beine in folternde Positionen drehen, aber sobald alles wieder in den Grenzen der Mechanik in eine natürliche Position gerückt war, war Liesje wieder mehr als nur eine Puppe. Dann war sie obendrein ein Mädchen wie sie selbst, ein Mädchen, das sie verstand und für das sie das war, was für sie ihre Mutter war, so daß sie selbst auch zugleich Liesje war. Und beide, Liesje und Liesje, wurden von einem schrecklichen Monster bedroht, das sich manchmal im Schatten der Vorhänge versteckte, oft aber auch irgendwo an der Decke umherirrte, ohne sich jemals zu zeigen: der Hooblei.
    Plötzlich, während sie über den Briefmarkenmarkt ging mit seinen schäbigen Philatelistenbuden und den mit Plastik abgedeckten Alben, erinnerte sie sich wieder daran, seit zehn oder fünfzehn Jahren hatte sie nicht mehr daran gedacht. Die düstere Drohung des Hooblei hatte ihre Kinderzeit überschattet wie eine Gewitterwolke, die sich nicht entlud: Er wollte sie in eine Schachtel stecken. Sie konnte mit keinem darüber sprechen, nur mit Liesje, die sich im Antiquariat willig in einen Buchschuber stecken ließ, um zu erfahren, wie das war. Und eines Tages schlug der Hooblei zu, und Liesje war tatsächlich für immer verschwunden – ihr Vater hatte sie mitsamt dem Schuber auf den Rand des Bürgersteiges gesetzt für die

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