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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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tun nichts dagegen, warum sollten wir dann noch jemanden verfolgen, der etwas für eintausendfünfhundert Gulden gestohlen hat? Oder jemanden, der eintausendfünfhundert Gulden gestohlen hat?«
    »Das ist wahr«, sagte Ada. Sie hatte zwar das Gefühl, daß die Rechnung nicht ganz aufging, aber es erschien ihr vernünftiger, nicht weiter darauf einzugehen. »Wenn wir nicht dagegen vorgehen, dann wird in zehn Jahren auch nichts mehr unternommen gegen jemanden, der ein Fahrrad oder ein Autoradio gestohlen hat, und in fünfzig Jahren nichts mehr gegen Mord. Das möchten Sie doch nicht?«
    Sie dachte an das Orchester. »Muß ich vor Gericht?«
    »Das kann gut sein.«
    »Und was bekomme ich dann?«
    »Ein Bußgeld, denke ich, und vielleicht noch etwas auf Bewährung. Was sind Sie von Beruf?«
    Als er hörte, daß sie Cellistin war, lehnte er sich kurz zurück, nahm die Lesebrille ab und sah mit einem nachdenklichen Lächeln zur Decke; es erinnerte ihn an etwas, aber er sagte nichts. Immer wieder eine klemmende Type vom Papier lösend, hielt er alle Daten fest, erkundigte sich nach der Schreibweise des Wortes Mamuschka und zog die Papiere mit einem jaulenden Ruck aus der Maschine. Bevor er sie unterschreiben ließ, las er ihr die Anzeige vor, in der sie, Ada Brons, geboren am 24. Juli 1946 in Leiden, Beruf Cellistin, erklärte, am 27. Oktober 1967 in Amsterdam / mit der Absicht auf widerrechtliche Aneignung entwendet zu haben / aus dem Gebäude des Kaufh auses De Bijenkorf / einen Bleistiftspitzer, Modell Mamuschka / dem Kaufh aus De Bijenkorf gehörend, zumindest aber einem anderen als ihr, der Verdächtigen. »Sie haben das Durchschlagpapier falsch herum eingelegt«, sagte Ada. Der Beamte sah auf das zweite Formular: es war leer. Der Text stand in Spiegelschrift auf der Rückseite des ersten. Er schüttelte den Kopf. »Das muß einem auf seine alten Tage noch passieren. Es wird Zeit, daß ich in Pension gehe. Wissen Sie was?« sagte er und riß mit seinen beiden großen Händen alles in Fetzen.»Wir sagen einfach, daß es nicht geschehen ist. Machen Sie’s gut.«
21
Die Nachricht»
    Kannst du nicht schlafen?«
    »Nein.«
    Es war etwa zehn Tage später. Er hatte bis nach Mitternacht durchgearbeitet und sich neben sie gelegt, ohne Licht zu machen; er mußte eingeschlummert sein, aber plötzlich war er wieder wach und wußte, daß sie mit offenen Augen dalag. Er konnte sie nicht sehen. »Du wirst doch nicht etwa von Reue verzehrt, weil dein Leben eine fatale kriminelle Wendung genommen hat.«
    »Vielleicht ist es das.«
    Er legte sich auf den Rücken, kreuzte die Arme unter dem Kopf und starrte in die Dunkelheit. »Was mag der Grund dafür sein, daß Verbrecher oft von Schlaflosigkeit gequält werden? Der Schlaf ist des Todes Bruder, sagt der Dichter, aber dann müßten Mörder besonders gut schlafen können. Weißt du übrigens, woher das kommt, daß der Mensch schlafen muß?« fragte er, während er ihr das Gesicht zuwandte, ohne jedoch etwas zu sehen. »Es ist idiotisch, daß wir ein Drittel unserer kostbaren Zeit damit vertun. Wenn man einmal darüber nachdenkt, ist es doch eigentlich völlig lächerlich und menschenunwürdig, dieses dumme Liegen mit geschlossenen Augen – absolut etwas aus der Vorkriegszeit. Vergleichbar mit der Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren.«
    »Also?«
    »Diese törichte Gewohnheit ist entstanden, als unsere Vorfahren aus dem Meer an Land krochen. Das Meer hatte damals eine Temperatur von siebenunddreißig Grad, war also so warm wie unser Blut. Tagsüber war das kein Problem, denn da schien die Sonne auf die Urquists und die Urbronses, aber nachts kühlte es ab, und dann gerieten sie in einen lethargischen Zustand wie Fledermäuse und ähnliche Wesen jetzt noch, während des Winterschlafs. Heutzutage sind wir homoiotherm, aber der Schlaf ist noch ein Erbe aus unserem poikilothermen Stadium, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Woher weißt du das bloß alles?«
    »Das ist die Folge der unglückseligen Tatsache, daß ich nicht vergessen kann, was ich einmal gelesen habe. Mein Gedächtnis ist mein Fluch. Aber tröste dich, ab und an erfinde ich etwas dazu. Ich könnte zum Beispiel dazuerfinden, daß die Art der Träume eine Reminiszenz an unsere frühere Existenz im Meer ist. Da geht es genauso idiotisch zu. Zum Beispiel dieses halbe Schweben in den Träumen, so ist es sonst nur im Wasser. Statt an Sigmund Freud sollten wir uns vielleicht an Jacques-Yves Cousteau wenden.«
    Ada schwieg.

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