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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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noch nach Amsterdam zu fahren, blieb er über Nacht. Jedesmal kam sie im Dunkeln und schlüpfte unter seine Decke; nachdem sie sich völlig verausgabt hatte, verschwand sie wieder, ohne daß er sie gesehen hatte. Sie sagte auch nichts mehr, was für ihn ein Zeichen war, im Bett ebenfalls nichts mehr zu sagen. Noch nie hatte er etwas Derartiges erlebt, aber auf irgendeine Weise entsprach es einem tiefen Wunsch, dessen er sich nie bewußt gewesen war. Er hatte die unerreichbare Frau erreicht! Keiner durfte es wissen, mit niemandem durfte er darüber sprechen – und schon gar nicht mit ihr. Wenn er auch nur ein einziges Mal zeigen würde, daß er es wußte, wäre es augenblicklich vorbei. Sie mußte die beiden Frauen bleiben, die sie war, die Tag-Sophia und die Nacht-Sophia; wenn er sie miteinander in Verbindung brachte, würde ein Kurzschluß den Mechanismus sofort außer Betrieb setzen.
    Er durfte sie nicht einmal bei ihrem Vornamen nennen, solange sie ihn nicht dazu aufgefordert hatte. Ein Psychiater hätte wohl von einer Perversion gesprochen, überlegte er, und Freud hätte einen Lachkrampf bekommen, aber da ihr Mysterium genau in seines paßte wie die Mutter auf eine Schraube, wurde er vollkommen süchtig nach dieser Konstellation – ganz abgesehen von ihrer herausgestreckten Zunge und dem begehrlichen unterirdischen Schnappen. Nahm sonst sein Verlangen nach derselben Frau jedesmal exponentiell ab, so schien es jetzt auch nach einem Monat von Mal zu Mal heftiger zu werden. Nach anderen Frauen sah er sich nicht mehr um, und das hatte als zusätzlichen Vorteil eine erhebliche Zeit ersparnis zur Folge.
    Onno hatte ihn schon mehrmals gefragt, wo er sich in den letzten Wochen denn herumtreibe, in der Vossiusstraat würde nur noch selten jemand abheben, worauf Max erklärte, abends würden regelmäßig Besprechungen über das Programm des neuen Teleskops in Westerbork abgehalten, das noch in diesem Jahr in Betrieb gehen sollte. Onno glaubte es dankbar, auch er tat nur noch wenig anderes, als von einer Besprechung zur nächsten zu hasten. Nach Berkeley, Amsterdam und Berlin – wo Rudi Dutschke inzwischen niedergeschossen worden war – revoltierten die Studenten nun auch in Paris. Das hatte dort gleich eine andere, gewichtigere Dimension, da es aus einer revolutionären Tradition heraus stattfand; die Revolte griff auf die Arbeiter über, die ihre Fabriken besetzten, und plötzlich würde die Lage in Europa ernst. L’Imagination au pouvoir! Eine neue Epoche schien anzubrechen, und auch in den Niederlanden bereitete sich die neue Garde darauf vor, die Macht zu übernehmen. Um sich ein Bild zu machen, reiste Onno Mitte Mai mit einigen Kampfgenossen für einige Tage nach Paris, wo er in den überfüllten Cafés rund um die besetzte Sorbonne verschiedene Aktivisten sah, die er aus Havanna kannte und die mit kubanischer Autorität und dem verklärten Blick des Triumphes in den Augen dozierten. Er habe sich jedoch, erzählte er Max nach seiner Rückkehr, nicht zu erkennen gegeben, solange seine holländischen Freunde in der Nähe gewesen seien: sie bräuchten nicht zu wissen, was er auf Kuba getrieben habe, weil sie es sonst eines Tages vielleicht gegen ihn verwenden würden.
    »Einen netten Beruf hast du«, sagte Max.
    »Das kannst du laut sagen. Politik wird von der sublimierten Unterwelt gemacht, und ich bin der größte Gangster von allen. Kein Pflaster für sanftmütige, weltfremde Geister wie dich.«
    Ada bekam vom Weltgeschehen nichts mit. Nach der Unfallnacht hatte Max sie nicht mehr gesehen; etwas sträubte sich in ihm, sie zu besuchen, und da er es ihretwegen nicht tun mußte, hatte er auch kein schlechtes Gewissen. Sophia erkundigte sich nie, ob er schon einmal im Wilhelmina Gasthuis gewesen sei, aber als Onno an einem Sonntagvormittag anrief und fragte, ob er mitkommen wollte, konnte er nicht ablehnen; eine Stunde später spazierten sie zwischen düsteren Gebäuden durch die weitläufige Anlage, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Sogar im Freien hing an diesem windstillen Frühlingsmorgen der Geruch von Lysol in der Luft und mischte sich merkwürdig mit dem Duft von Orangen.
    Ada lag in einem abgelegenen Pavillon mit sechs anderen Frauen in einem schmutziggelb gestrichenen Zimmer. Es war Besuchszeit, und an jedem Bett saßen schweigende oder flüsternde Verwandte; die meisten Patientinnen trugen einen Kopfverband. An einem Tisch unter einem Monatskalender mit einem großen Bild der Cheopspyramide las

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