Die Entdeckung des Himmels
hereinließ.
»Ja, so was«, sagte Onno. »Hallo, Mutter.«
»Hallo, Onno, hallo, Max.«
»Tag, Frau Brons.« Max gab ihr die Hand, und er war sicher, daß ihm ebensowenig anzusehen war wie ihr.
Der Arzt, ein kleiner Mann mit schütterem Haar, trug eine doppelte Brille, deren eine Hälfte nach vorne geklappt war, so daß es aussah, als schaute er über einen rechten Winkel in den Himmel. Nachdem Onno ihn als Doktor Stevens, Adas Neurologen, vorgestellt hatte, kehrten sie zum Bett zurück.
Max war merkwürdig zumute. Da waren sie nun plötzlich alle vier zusammen, oder eigentlich alle fünf. Aber wer war hier wer? Für Onno war es einfach, er war in Gesellschaft seines Freundes, seiner Schwiegermutter und der Mutter seines Kindes. Zugleich aber war er in Gesellschaft der Liebhaberin seines Freundes, der selbst vielleicht Vater des Kindes war, das seine Frau bekommen würde, und also auch nicht unbedingt Freund genannt werden konnte, sowenig wie seine Frau nur seine Frau gewesen war.
Sophia wußte zwar mehr als Onno, aber eben auch bei weitem nicht alles.
Sophia strich Ada kurz über das Haar und lockerte das Laken am Fußende ein wenig. »Sonst bekommt sie Spitzfüße«, sagte sie, ohne Stevens anzusehen. Und dann mit unbewegtem Gesicht: »Die Befunde sind nicht gut, Onno.«
Onno sah zum Neurologen.
»Tja –«, sagte dieser mit einem Blick zu Max.
»Sagen Sie es ruhig, ich habe keine Geheimnisse vor meinem Freund.«
»Wir haben gerade darüber gesprochen. Das EEG hat sich in den letzten Tagen ernsthaft verschlechtert, und auch aus anderen Befunden spricht, daß Sie sich darauf gefaßt machen müssen, daß sich Ihre Frau aller Wahrscheinlichkeit nach in einem irreversiblen Koma befindet.«
Onno sah ihn weiter an, warf dann einen Blick auf Ada und ging aus dem Zimmer. Max zögerte, folgte ihm dann aber.
Onno stand im Gang an einem Fenster und schaute hinaus auf die ausgetretenen Hospitalwege.
»Ich habe es gewußt«, sagte er, »ich habe es die ganze Zeit gewußt. Wir haben es alle gewußt. Wie um Himmels willen soll es nun weitergehen?«
Max spürte die eine totale, unerträgliche Verzweiflung, die sich im selben Augenblick auf ihn übertrug wie ein Aufruf, eine Forderung!
Als Onno am Nachmittag seine jüngste Schwester anrief, um ihr die schlechte Nachricht zu melden, erzählte sie, in der Verwandtschaft werde schon seit Tagen hin und her telefoniert und überlegt, was geschehen solle, wenn Ada vegetativ bliebe.
Das ärgerte ihn sofort maßlos: das würde doch wohl er bestimmen! Andererseits aber mußte eine Entscheidung auch aus dieser Richtung kommen, das begriff auch er. »Familie währt am längsten«, sagte er oft, und als Dol ihm vorschlug, einen Familienrat zu organisieren, stimmte er zu. Abends rief sie an mit der Nachricht, der Vater wolle auch den Pfarrer dazubitten, worauf Onno sagte, daß das Ganze dann wohl ohne ihn stattfinden müsse.
Im Clan war natürlich alles schon beredet worden. Es würde nur scheinbar eine Familienberatung sein, und ihm war sofort klar, worauf es hinauslaufen würde. In seiner direkten Verwandtschaft gab es nur zwei Familien mit Kindern: die von Diederics ältestem Sohn, Hans, und die von Trees’ ältester Tochter, Paula. Er hatte nie viel Interesse an diesen Familien-Verzweigungen gehabt, sah den Nachwuchs selten auf Festen, und dann waren sie jedesmal wieder gewachsen und hatten sich so sehr verändert, daß er nicht mehr wußte, wer nun wer war. Sein Neffe Hans, derzeit Erster Sekretär an der Botschaft in Kopenhagen, mit dem er nie mehr als ein paar Worte gewechselt hatte, stand an der Schwelle zu einer vielversprechenden Karriere im auswärtigen Dienst; als Quist war er für einen Botschafterposten in den schrecklichsten Ländern vorherbestimmt, um womöglich eines Tages den höchsten Status diplomatischer Seligkeit zu erreichen: London. Er war mit einer Bankierstochter aus Breda verheiratet, deren Vater auf die Idee gekommen war, sie Hadewych zu nennen. Seine Nichte Paula, die er eigentlich auch nicht kannte, hatte einen um fünfzehn Jahre älteren Hafenbaron aus Rotterdam auserwählt, Jan-Kees, der drei Kinder aus seiner vorigen Ehe mitgebracht hatte: ein ungehobelter, jovialer Mann Ende Dreißig, der laut redete und Zigarren rauchte.
Zwei Tage später versammelte sich bei den Quists in Den Haag eine gewichtige Delegation. Neben dem Pult mit der Bibel saß im Gegenlicht der alte Quist und ließ den Blick über seine Kinder und Enkelkinder schweifen.
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