Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
ein Krankenpfleger die Zeitung. Ada war auf ein Lammfell gebettet; sie hatte eine Sonde in der Nase, ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt. Sie atmete ruhig und mit geschlossenen Augen, als schliefe sie, und zugleich war irgendwie doch zu sehen, daß es kein Schlaf war. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war verändert, aber Max konnte nur schwer in Worte fassen, in welcher Hinsicht: es lag etwas Ewiges darin, als ob sie allmählich einem Abbild ihrer selbst Platz machte. Ihre Arme waren an den Körper gelegt, die Hände reglos. Was auf jeden Fall unverkennbar anders geworden war, gewachsen, erhöht, war die Welle unter der Decke. Ada war jetzt im siebten Monat, und was dort in ihr zunahm, war kein Bild, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Es war, als existierte sie nur noch, um dieses Wesen hervorzubringen – eine machtlose Bienenkönigin, die von Arbeiterinnen am Leben erhalten wurde.
    Max und Onno standen zu beiden Seiten des frisch gemachten Bettes und sahen sich an.
    »Das Bild gebiert einen Menschen«, sagte Max leise und hatte sofort das Gefühl, zu weit gegangen zu sein.
    Onno zuckte zusammen. Es drückte genau das aus, was er während dieser Wochen empfunden hatte. Sie war reduziert, war zu einer Art Ofen geworden, der anders war als das Brot, das darin aufging. Wenn nur der Moment käme, an dem sie die Augen aufschlug! Auch heute gab es wieder keinerlei Anzeichen dafür, und seit kurzem hatte er die Hoffnung fast aufgegeben, aber das wollte er sich noch nicht eingestehen; auch über die Probleme, die ihm vermutlich bevorstanden, wollte er erst nachdenken, wenn es Gewißheit gab. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er, wenn er vom Schlimmsten ausging, das Unwiderrufliche in irgendeiner Weise zu Ada hinzog.
    »Jeder geht davon aus«, sagte er, »daß die Frauen in diesen Betten nichts hören, und trotzdem flüstern alle.«
    »Damit sie nichts hören«, ergänzte Max. »Vielleicht hören sie also doch etwas.«
    »Meinst du wirklich?«
    Max zuckte die Achseln.
    »Ich weiß es nicht. Wir flüstern doch auch. Warum sind wir eigentlich hier? Vielleicht sind wir im Grunde unseres Herzens davon überzeugt, daß die Patienten zwar alles mitkriegen, es aber nicht zeigen können.« Onno öffnete den Mund, schloß ihn aber sofort wieder, und Max sagte: »Ja, das mit dem EEG weiß ich natürlich auch.«
    Onno erinnerte sich, daß Marijke auch schon so etwas behauptet hatte, aber das war natürlich Unsinn. Er wollte einwenden, daß dann sicher auch die Toten alles hörten, denn in Sterbezimmern werde ebenfalls geflüstert, aber Adas Anwesenheit hielt ihn davon ab – was hieß, daß es vielleicht doch kein völlig unsinniger Gedanke war. Außerdem wußte er, daß Max seine Theorie sofort auf die Spitze treiben würde, wie er immer alles auf die Spitze trieb, und bei der Gelegenheit auch bereit wäre, die Grenze zwischen Leben und Tod zu einem ausgedehnten Niemandsland zu erweitern. Soweit er ihn kannte mit seiner Neigung zur homosexuellen Symmetrie, würde er dafür einen postmortalen Zeitraum von neun Monaten veranschlagen – womit er dann auch gleich den tieferen Grund der Trauerzeit erklärt hätte.
    Max seinerseits glaubte der Theorie im Grunde genausowenig, aber auch er war sich ganz sicher, daß er es nicht wagen würde, Ada ins Ohr zu flüstern: »Dein Vater ist tot, und ich habe ein Verhältnis mit deiner Mutter.« Er las die Karte an den Blumen, die am Bett standen:
    »Von Bruno.« Er sah Onno an. »Sinnlos. Geldverschwendung.«
    »Das hat er für sich getan.«
    »Noch schlimmer.«
    Als Onno klar wurde, daß seine Antwort auch bedeutete, Ada könnte nie mehr aufwachen, sagte er:
    »Oder vielleicht hat er gehofft, daß sie, wenn sie wieder zu sich kommt, dann gleich seine Blumen sieht.«
    Dann war es still im Krankenzimmer. Besucher schauten reglose Patienten an, lebende Tote.
    »Das ist hier ja wie im Museum«, flüsterte Max.
    Im selben Moment wie Onno nahm er Adas Hand, Onno die eine, mit der sie die Saiten gestrichen hatte, er die andere, die den Bogen gehalten hatte. Beide spürten sie, daß die Hand trotz ihrer Wärme ein Ding geworden war. Hier und da kam auf dem weißen Bettgestänge Rost durch.
    »Laß uns gehen«, sagte Onno.
    Sie legten die Hände wieder an ihren Platz, Onno drückte einen Kuß auf Adas Stirn, und sie gingen zur Tür. Als Max die Hand nach der Klinke ausstreckte, wurde sie gerade nach unten gedrückt, und es erschien ein Arzt in einem weißen, offenstehenden Kittel, der Sophia

Weitere Kostenlose Bücher