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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Und als Mann der Wissenschaft konnte er sogar eine Chance für ein drittes Verhängnis nicht ganz ausschließen: daß auch Sophia von ihm schwanger wurde.
    Aber er war nicht zu halten. Die Erinnerung an das Schnappen und an die Umstände dieser Nacht vor einer Woche hatten ihm jegliches Interesse für andere Frauen genommen. Wie jemand, der das Rauchen aufgegeben hatte und den ganzen Tag nur noch an Zigaretten dachte, irrte er durch die Sternwarte, ging in den Botanischen Garten, kam wieder, ging im Zimmer auf und ab, trank einen Kaffee, führte Gespräche, die er sofort wieder vergaß, und als die meisten schon nach Hause gegangen waren, ging er in einem chinesischen Restaurant essen, wo er oft mit Ada gewesen war. Er trank drei Fläschchen Sake, und um halb zehn ging er zum Telefon und wählte die Nummer, die unter Ada in seinem Kalender stand.
    »Brons.«
    »Max Delius. Ich rufe an wegen meines Anspitzers.«
    »Der liegt hier auf dem Tisch.«
    »Ist es Ihnen recht, wenn ich kurz vorbeikomme, um ihn zu holen? Oder ist es Ihnen zu spät?«
    »So spät ist es nun auch wieder nicht.«
    »Dann bin ich gleich bei Ihnen.«
    Zitternd bezahlte er und fuhr zum Lob der Torheit. Er parkte sein Auto halb auf dem Gehsteig und nahm sich vor, nicht die geringste Initiative zu entwickeln, wie es sonst seine Gewohnheit war; er würde schon sehen, was geschehen würde.
    Sophia öffnete ihm mit einer schwarzen Lesebrille tief auf der Nase.
    »Hallo, Max.«
    »Guten Abend, Frau Brons.«
    Er folgte ihr durch das Antiquariat, das den Eindruck machte, als habe es wieder geöffnet. Im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton. Auf einem Platz, offenbar in Rom, schlug die Polizei auf Demonstranten ein.
    »Was ist los?«
    »Ach, das. Ich weiß auch nicht, ich wollte einen Film mit Greta Garbo sehen, der gleich anfängt. Setz dich, oder mußt du gleich wieder gehen?«
    Während sie in der Küche Kaffee kochte, stellte er den Ton lauter und setzte sich auf die Couch. Seit Adas Schwangerschaft war die Politik mehr oder weniger an ihm vorbeigegangen; natürlich las er in der Zeitung, was in der Welt passierte, und das war viel, aber er las es wie Anzeigen oder den Wirtschaftsteil: es drang nicht dorthin vor, wo er seitdem nahezu ausschließlich war, auch jetzt nicht. Als Sophia mit dem Kaffee hereinkam, lief gerade der Vorspann zu Anna Karenina.
    Zu Hause hatte er einen tragbaren Fernseher mit einer ausziehbaren Zimmerantenne, der allerdings selten lief, er konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit Ada ferngesehen zu haben. Aber jetzt, in diesem Zimmer hinter dem Buchladen, im tiefsten Geheimnis, zeigte diese spießbürgerlichste aller Vergnügungen plötzlich eine erregende Kehrseite, wie ein harmloses Stiefelchen für einen Schuhfetischisten. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß Sophia in dem kleinen Sessel, rührte in ihrem Kaffee und sah sich das rasch sich entwickelnde Drama an. Sie sprachen nicht. Vor etwa zehn Jahren hatte er den Roman gelesen, aber er hatte den Eindruck, daß der Film nicht mehr mit dem Buch zu tun hatte als das Bild von einer Katastrophe mit der Katastrophe selbst. Paläste, blendende Uniformen. Das unergründliche Antlitz der Garbo, das verzweifelnd Singende ihrer Stimme. Aus den Augenwinkeln sah er hin und wieder zu Sophia hinüber, auf ihre schönen, schmalen Knöchel. Was früher der Ofen war, dachte er, um den die Familie saß, war heute der Fernseher. Fernsehen – das moderne Feuer. Er wollte ihr das sagen, aber er hatte das Gefühl, daß er lieber den Mund halten sollte.
    Als das Pfeifen und Zischen der verhängnisvollen Lokomotive und die unheimlichen Rauchschwaden Platz machten für die letzten Nachrichten, schaltete Sophia den Apparat aus und fragte, ob er noch etwas trinken wolle.
    »Ein Glas Wein vielleicht?«
    »Wenn ich Sie nicht aufh alte –.«
    »Ich gehe nie früh schlafen, aber du mußt noch nach Amsterdam.«
    »Ich bin in einer halben Stunde da. Die Straßen sind jetzt leer.«
    Spielte sie ein Spiel – oder gerade nicht? Nachdem sie ihm aus einer angebrochenen Flasche Rioja eingeschenkt hatte, sprachen sie von Ada. Sophia war morgens in der Klinik gewesen: der Zustand sei noch immer unverändert und die Ärzte erheblich weniger optimistisch. Als sie habe anklingen lassen, daß sie diplomierte Krankenpflegerin sei, hätten sie anders mit ihr gesprochen als vorher. Sie habe Einzelheiten erfahren über Laborbefunde, die Untersuchung motorischer Funktionen, Augenreflexe. Erst in einigen Wochen

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