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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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könne eine einigermaßen genaue Prognose abgegeben werden, aber es gebe immer noch Hoffnung, und das werde vorläufig auch so bleiben. Aus der medizinischen Literatur sei sogar der Fall eines vierzigjährigen Mannes bekannt, der anderthalb Jahre nur noch vegetativ gelebt habe, dann aber doch wieder zu sich gekommen sei und zu sprechen angefangen habe, auch wenn er fast ganz gelähmt gewesen sei.
    Max nickte. Sie dachte jetzt mit Sicherheit das gleiche wie er: wie es weitergehen würde, falls Ada ihr Bewußtsein nicht wiedererlangen sollte. Er wollte darauf zu sprechen kommen, traute sich aber nicht. Auf seine Frage, wie es nun mit dem Antiquariat weitergehe, sagte Sophia, sie habe nachmittags geöffnet, aber es könne so nicht weitergehen; wenn jemand komme, um zu stöbern, und ein Buch kaufen wolle, verkaufe sie es zu dem Preis, den ihr Mann auf die Schutzhülle geschrieben habe. Wenn aber jemand einen Stapel Bücher bringe, um sie zu verkaufen, wisse sie nicht, was sie machen solle, und schicke ihn weg.
    Schweigen.
    »Was für ein Kind war Ada?« fragte Max.
    Sophia sah kurz auf ihre Hände.
    »Soll ich dir das erzählen? Einmal, kurz bevor Oswald und ich irgendwo hingehen mußten, hatte ich einen Streit mit ihr. Sie war damals vielleicht elf oder zwölf Jahre alt. Sie hatte eine schreckliche Geschichte über mich verbreitet: daß ich die Katze in einen Bücherkarton gesteckt und im Rapenburg ertränkt hätte – obwohl wir doch gar keine Katze hatten. Oswald war allergisch gegen Katzen. Als wir mittags nach Hause kamen, fanden wir einen Zettel auf dem Tisch, auf dem stand, daß sie fortgelaufen sei und nie mehr zurückkomme.
    Am Tag davor hatten wir Pfannkuchen gegessen, und wie du weißt, werden immer zu viele gebacken, die übriggebliebenen waren alle verschwunden. Wir hielten die Angelegenheit für eher harmlos, aber als sie zum Essen noch immer nicht da war, fingen wir an, uns langsam Sorgen zu machen. Wir riefen jeden an, den sie kannte, und später am Abend ging Oswald mit einem Foto zur Polizei. Wir blieben auf, und mitten in der Nacht hielt es Oswald nicht mehr aus, stieg völlig aufgelöst auf sein Fahrrad und ging sie suchen. Als er schon einige Straßen entfernt war, hörte ich ihn immer noch rufen. Eine halbe Stunde später bekam ich plötzlich ein komisches Gefühl, ich weiß nicht, was es war, aber ich ging auf den Dachboden und machte die Tür zum Verstauschrank auf. Dort lag sie und schlief, im Mantel. Neben ihr, in einem zusammengeknoteten Geschirrtuch, die Pfannkuchen.«
    »Und Ihr Mann fuhr noch eine Stunde durch Leiden und rief ihren Namen?«
    »Ja. Als er nach Hause kam, lag sie schon im Bett. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß ich sie ausgezogen hatte.«
    »Und dann?«
    »Es wurde nie wieder darüber gesprochen.«
    Draußen war es still. Max trank sein Glas aus, und einer Eingebung folgend, beschloß er, nicht mehr als erster etwas zu sagen. Er schenkte Sophia und sich selbst nach und betrachtete seinen Bleistiftspitzer, der auf dem Tisch lag. Ein Märchen. Da saß er nun in diesem Zimmer, in dem er Ada zum ersten Mal gesehen hatte, und kurz darauf ihre Mutter. Die Zeit verstrich, und das Schweigen umfaßte ihn wie ein immer heißer werdendes Bad. Am Rande seines Gesichtsfeldes sah er ununterbrochen ihre Gestalt, mit dem Geheimnis tief in ihrem Schoß. Nach einigen Minuten blickte er kurz zu ihr hinüber, und eine Sekunde lang antwortete sie seinem Blick, aber ohne Ausdruck. Auch er gab keinerlei Zeichen des Einvernehmens; er war sich sicher, daß er, wenn er jetzt lächelte, alles zerstört hätte.
    Nachdem zehn oder fünfzehn Minuten des Schweigens verstrichen waren, wußte er, daß er verlieren würde. Sie war ihm überlegen. Sie würde bis morgen früh in ihrem Sessel sitzen bleiben und schweigen. Mit klopfendem Herzen sah er auf die Uhr und sagte:
    »Es ist spät. Ich werde jetzt gehen.«
    Sie sah ebenfalls auf die Uhr.
    »Mußt du morgen früh wieder in Leiden sein?«
    »Wie immer.«
    »Aber du hast getrunken. Wenn du möchtest, kannst du hier schlafen.«
    »Wenn ich Ihnen keine Umstände mache –.« Brons’ Sachen waren aus dem Bad verschwunden.

29
Unumkehrbarkeit
    In den folgenden Wochen besuchte er Sophia alle paar Tage.
    Jedesmal rief er vorher an, um sein Kommen anzukündigen, denn schon eine Verabredung erschien ihm zu intim, und jeden Morgen dankte er förmlich für die Gastfreundschaft. Sie redeten wenig, lasen etwas oder sahen fern; wenn es schließlich zu spät war, um

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