Die Entdeckung des Himmels
Die Frauen waren in der Mehrzahl. Diederic und seine Antonia waren nicht da – sie statteten Indonesien einen offiziellen Besuch ab –, dafür waren aber der Kopenhagener Hans und seine Hadewych zugegen; da Hans im Ministerium zu tun hatte, hatte er die Gelegenheit genutzt, um nach Hause zu kommen. Wie Onno erwartet hatte, waren auch Paula und Jan-Kees erschienen.
Paula war wie Hadewych etwa in Adas Alter und mit ihrem zweiten Kind schwanger. Nur Sophia gehörte nicht zum unmittelbaren Familienkreis. Onno nahm an, daß sein Vater die Besprechung wie der Vorsitzende des Ministerrates eröffnen würde, sobald Coba Tee und Mandelplätzchen serviert und das Zimmer verlassen hatte, aber es war seine Mutter, die sagte: »Dieses arme Kind. Ich habe gestern nacht kein Auge zugetan. Besteht denn wirklich gar keine Hoffnung mehr, Onno?«
Er zuckte die Achseln.
»In der Medizin scheint nichts zu hundert Prozent sicher zu sein, aber nach Meinung der Ärzte müssen wir jetzt davon ausgehen, daß es so bleibt. Frag Karel.«
»Ich habe gestern mit dem Wilhelmina Gasthuis telefoniert«, sagte sein Schwager, der Gehirnchirurg. »Ich fürchte, daß es zutrifft. Und vielleicht«, sagte er mit einem kurzen Blick zu Onno, »ist das von allen Übeln noch das geringste.
Ein lang andauerndes Koma kann unwiderrufliche Konsequenzen wie völligen Gedächtnisverlust oder totale Charakterveränderung nach sich ziehen.«
Völliger Gedächtnisverlust. Totale Charakterveränderung.
Die Worte drangen in Onno wie Kugeln in einen Körper.
Das hatte ihm vorher niemand so gesagt, Karel nicht und die Ärzte im Krankenhaus auch nicht; offenbar hatte jeder in der letzten Zeit gehofft
, daß sie nicht mehr aufwachen würde.
»Auch für Sie muß es furchtbar sein«, wandte sich Frau Quist an Sophia. »Zuerst der Tod Ihres Mannes, und nun dieses schreckliche Schicksal Ihres einzigen Kindes.«
Onno sah zu seiner Schwiegermutter. Seit er einmal gesehen hatte, wie sie Adas Fingernägel feilte – die jetzt nicht mehr abgekaut waren –, fiel sein Urteil über sie milder aus. Es war klar, daß sie sich in dieser Gesellschaft unbehaglich fühlte, aber sie saß aufrecht da und hielt stand.
»Ich habe immer gewußt, daß das Leben wie das Wetter ist.
Es kann jeden Augenblick umschlagen.«
Nach diesen Worten, die nicht gerade von christlichem Sentiment zeugten, war es kurz still. Aus der Ferne drang das Geräusch von Preßlufthämmern ins Zimmer. Onno hoffte, daß jetzt nicht irgendein salbungsvolles Zitat aus dem Heidelberger Katechismus kommen würde, aber glücklicherweise besaß die Versammlung dann doch genügend Takt, um davon abzusehen. Im übrigen, überlegte er, galt der seltsame Wetter-Satz vor allem für die Witterung in den Niederlanden und nicht für die der Sahara, aber das behielt er für sich.
»Die Dinge sind, wie sie sind«, sagte er in einem Ton, als ob diese Tautologie die endgültige Lebensweisheit enthielte.
»Vielleicht sollten wir an diesem Nachmittag nicht über unsere Gefühle reden, sondern über die Frage, wie es weitergehen soll. Wenn alles gutgeht, wird in zwei Monaten, im Juli, unser Kind geboren. Und nach Meinung der Leute, die es wissen müssen, gibt es keinerlei Gründe anzunehmen, daß es nicht gutgeht, was das anbelangt. Aber was dann?«
»Natürlich erwartet keiner von dir, daß du Windeln wäschst«, sagte Trees, während sie ihren Seidenschal zurechtrückte.
Als ungesagte Fortsetzung hörte Onno auch noch den Nebensatz: »… während du selbst noch eine trägst«, wollte aber nicht darauf eingehen, nicht nur, weil jetzt nicht der richtige Moment war, die Stacheln aufzustellen, sondern auch, weil sie damit nicht ganz unrecht hatte. Er würde die Sicherheitsnadeln nicht nur durch die Windel, sondern auch durch das Kind stechen, es in Gedanken versunken vom Wickeltisch rollen lassen, ans Telefon gehen und es währenddessen in der Badewanne ertrinken lassen.
»Natürlich nicht«, sagte ihr Mann, »das ist Frauensache.
Heutzutage hört man zwar andere Töne, aber es ist nun einmal so, daß Frauen Kinder kriegen, und nicht die Männer.
Die ken nen das alles nur vom Hörensagen. Demnächst also wird Onnos Kind geboren. Da er selbst es nicht versorgen kann: wer versorgt es?«
Damit hatte Coen die Angelegenheit auf den Punkt gebracht. Vermutlich hatte er heute noch zu tun. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er in die Runde, als ob der erste, der jetzt den Finger hob, das Kind nach Recht und Gesetz zugewiesen
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