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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Vater ein geheimes, unterirdisches Band, so daß sie es dennoch in irgendeiner Weise registrierte? Vielleicht ein Band wie das zwischen ihr und ihrem ungeborenen Kind – wie zwischen einem Sohn und seiner Mutter?
    Als der Vorgang in der Unterwelt offenbar abgeschlossen war, trat der junge Friedhofsangestellte wieder einen Schritt nach vorn und machte den Angehörigen eine einladende Geste, im selben Moment öffnete sich auf der Seite eine Doppeltür, und sofort verbreitete sich – Weihrauch im Reich der Lebenden – der Duft von Kaffee. Die Hinterbliebenen stellten sich in einer Reihe auf, und Max war der letzte, der sein Beileid bekundete. Ohne ein Wort drückte er Sophias Hand, wobei er sich ihrer Wärme bewußt war, aber obwohl sie ihm dies ansehen mußte, ließ sie keine Reaktion erkennen. Sie stellte ihn ihrer Mutter vor, die ihn, auf einen Stock gestützt, mit den gleichen kühlen Augen ansah und sagte:
    »Sie saßen am Steuer, höre ich. Wie schrecklich das alles ist.«
    Er nickte. Brons’ Mutter weinte, was dazu führte, daß sich auch sein Vater kaum beherrschen konnte; aber je jünger die Generationen wurden, um so erträglicher wurde das Leid: die jüngsten Neffen und Nichten waren in unverkennbar aufgeweckter Stimmung.
    Hinter ihm hatte sich die Reihe der Hinterbliebenen aufgelöst, und er fragte Onno, wie es Ada heute ginge.
    »Unverändert.« Er entschuldigte sich, er müsse jetzt zu Vater und Mutter, um wiedergutzumachen, was A. L. C. Akkersdijk angerichtet habe. »Was ich diesen Leuten zumute – dafür werde ich sicher irgendwann schwer gestraft. Übrigens, wir gehen nachher noch in die Statenlaan, zu meinen Eltern, aber das ist nur für die nächsten Angehörigen. Ich kann dich schlecht einladen.«
    »Natürlich nicht. Ich rufe dich morgen an.«
    Am Büfett holte er sich Kaffee und Kuchen, schlenderte in die Gesellschaft hinein und wechselte hier und da einige Worte. Er warf immer wieder einen kurzen Blick auf die Witwe, aber sie sah immer gerade in eine andere Richtung.
    Natürlich. Er saß einem gewaltigen Irrtum auf und sollte sich die Sache aus dem Kopf schlagen. Es war ein einmaliger Vorfall gewesen, unter dem Druck der Situation hatte sie sich ein einziges Mal gehenlassen, und jetzt hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie war wieder die unerreichbare Frau, die sie immer gewesen war. Vielleicht hatte sie sich inzwischen tatsächlich eingeredet, daß nichts geschehen war.
    Als allseits Anstalten zum Aufb ruch gemacht wurden, richtete er es dennoch so ein, daß er zufällig in ihrer Nähe war.
    Während sie ihrer Mutter beim Aufstehen half, fragte sie ihn:
    »Hast du deinen Bleistiftspitzer nicht vermißt? Du hast ihn letzte Woche liegenlassen.«
    »Ach, war das bei Ihnen!«
    Kühl sah sie ihn an.
    »Auf Wiedersehen. Danke für deine Anteilnahme.«
    »Auf Wiedersehen, Frau Brons.«

    Am liebsten hätte Max den Bleistiftspitzer noch am selben Abend geholt. Auch am folgenden Tag schweiften seine Gedanken ständig ab: vom System 3 C 296 zum Schnappen von Frau Brons. Es war doch eine verkappte Einladung gewesen!
    »Auf Wiedersehen.« Oder redete er sich das ein? Vielleicht ging es ihr wirklich nur um den Anspitzer. Aber kam man zurück auf etwas so Banales wie einen Bleistiftspitzer, und das unmittelbar nach der Einäscherung des eigenen Ehemannes?
    Wenn es nun ein Füller gewesen wäre oder ein ganz besonderer Bleistiftspitzer, aber es war ein ganz gewöhnliches graues Ding für zwei Groschen, das er nicht einmal vermißt hatte, weil er zu Hause und in der Sternwarte noch mindestens fünf oder zehn davon hatte. Doch er fuhr auch am nächsten Abend nicht zu ihr, sondern zwang sich dazu, ins Auto zu steigen und nach Amsterdam zu fahren, weil er nicht überblicken konnte, in was er sich vielleicht hineinbegeben würde. Hatte er sich mittlerweile nicht genug Schwierigkeiten aufgehalst? Dieses erste Mal war die Initiative von Sophia Brons ausgegangen, unter außergewöhnlichen Umständen, das war in gewisser Weise wie nicht geschehen. Aber ein zweites Mal würde die Initiative von ihm ausgehen, und das wäre ein neuer Anfang, und wenn der auf Resonanz stieße, würde alles anders. Dann würde es auch ein drittes Mal gehen, und ein viertes. Und wie geheim konnte es bleiben? Angenommen, Onno würde es erfahren! Außerdem: Bald würde ihre Tochter ein Kind bekommen, das vielleicht ihrem Liebhaber ähnlich sah – was dann?
    Dann würde alles doppelt katastrophal, und vielleicht nicht ganz ungefährlich.

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