Die Entdeckung des Himmels
der Strom aus, und wir schalteten sofort auf das Notstromaggregat um; kurz darauf sahen wir sie auf das Terminalgebäude zulaufen. Sie hielt uns ein kleines Paket in Plastikfolie hin: ob das solange bei uns ins Gefrierfach gelegt werden könne – es war das Abendessen ihres Mannes, Lende, Bratkartoffeln und Erbsen, das sie vor mehr als zwanzig Jahren für ihn zubereitet hatte, das er aber nicht mehr hatte essen können, weil er plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war.«
»Genau!« rief Onno zu Helga, während er mit dem Messer über dem Kopf herumfuchtelte. »Das ist Liebe! Daran kannst du dir ruhig ein Beispiel nehmen.«
Quinten kniete auf seinem Stuhl und sah mit offenem Mund seinen Vater an. Als Onno den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, sagte er:
»Ja, mein Sohn, dazu fällt dir nichts mehr ein. Auch wenn die Liebe nicht mehr durch den Magen geht, besiegt sie den Tod noch immer! Sag doch mal was, du Lümmel. Als ich so alt war wie du, habe ich schon Tacitus gelesen.«
»Onno –«, sagte Sophia vorwurfsvoll, »er versteht mehr, als du glaubst.«
Nach dem Essen fuhren sie zu Ada. Helga blieb mit Quinten auf Groot Rechteren. Onno saß als der umfangreichste neben dem Fahrer, Max war mit verschränkten Armen zwischen Sophia und ihrer Mutter auf dem Rücksitz eingekeilt. Unterwegs fragte Frau Haken, wann sie eigentlich Quinten erzählen wollten, was mit seiner Mutter geschehen sei.
»Vielleicht nie«, sagte Onno sofort, ohne den Kopf zu drehen, wandte sich dann aber doch zu Sophia um und sagte: »Nehmen Sie es mir nicht übel.«
»Ich nehme dir nichts übel. Und mach dir keine Sorgen, auf einmal wird er sprechen, da bin ich ganz sicher.« Und zu ihrer Mutter: »Er darf natürlich keinen Moment in dem Glauben gelassen werden, daß ich seine Mutter bin und Max sein Vater. Er soll wissen, wie die Dinge liegen. Nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Max. Er bemerkte jetzt zum ersten Mal deutlich die grauen Haare, die hier und da zu sehen waren.
Tagsüber war er ihr noch nie so nahe gekommen wie jetzt, und nachts war es dunkel. »Das w‘r ja noch schöner.«
»Und wann willst du ihm dann Ada zeigen?« fragte Frau Haken.
»Das soll Onno bestimmen.«
»Nein, das müssen Sie bestimmen«, sagte Onno. »Sie kennen ihn am besten. Es hängt ganz davon ab, wie er sich macht, denn es ist mit Sicherheit ein ziemlicher Schock. Wenn er sechs wird? Zehn? Was meinst du, Max?«
»Ich denke, wir werden es genau wissen, wenn es soweit ist.«
»Vermutlich hast du recht.«
»Weißt du übrigens«, fragte Sophia, »wer immer noch ein paarmal im Jahr ins Krankenhaus zu Besuch kommt? Ma rijke und Bruno. Sie haben geheiratet.«
Keiner sagte mehr etwas. Jeder spürte beim anderen denselben Gedanken: Wie lange würde sie noch leben? Sollte sie noch lange leben? Und wenn sie plötzlich sterben würde – sollte Quinten sie dann nicht wenigstens vorher einmal gesehen haben, und sei es auch nur als leise Atmende?
Das Pflegeheim – von hämischen Funktionären des Gesundheitsamtes »Vreugdenhof« genannt – war ein Neubau an einer neuen Straße am Stadtrand von Emmen. Es war im selben modernen Unstil erbaut wie die Halle, in der Oswald Brons dem Feuer übergeben worden war, mit Innenwänden aus Ziegelstein, die aussahen wie Außenmauern, so daß man ständig meinte, irgendwo hineingehen zu müssen.
»Sogar die Architekten lassen die Menschen heutzutage im Regen stehen«, sagte Max.
Onno pflichtete ihm bei:
»Es ist hoffnungslos. Architekten sind Friedensverbrecher.
Die Endzeit naht.«
Ada lag im zweiten Stock in einem kleinen Zimmer mit Aussicht auf einen gepflasterten Innenhof. Schweigend stellten sie sich um das Bett; für Frau Haken, die Tränen in den Augen hatte, wurde ein Stuhl hingestellt. Da sind sie nun, dachte Max: Quintens Urgroßmutter, seine Großmutter, seine Mutter und in jedem Fall auch sein Vater. Ada hatte sich verändert, aber es war schwer zu sagen, was es war. Es war wie mit einem neuen Buch, das man gekauft und ungelesen in den Schrank gestellt hatte: Wenn man es nach Jahren hervorholte, war es nicht mehr neu, obwohl sich erkennbar nichts verändert hatte; es hatte sich auch nicht erneuert und war auch nicht mit der Zeit gegangen. Sie lag einfach da, den Kopf seitlich auf dem Kissen, und wußte nicht einmal, daß sie einen Sohn mit unglaublich blauen Augen hatte, und erst recht nicht, daß die Russen Prag besetzt hatten, die Amerikaner jetzt auch Kambodscha dem Erdboden gleichmachten und ihr Mann
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