Die Entdeckung des Himmels
einem erleichterten Max gefunden wurde: »Ich hab ihn!«
Auch an seinem zweiten Geburtstag konnte er noch nicht sprechen, das heißt, er hatte noch nichts Verständliches gesagt; dafür zeigte er immer auffälliger eine merkwürdige Kombination aus Neugier und Distanz. Er wollte keine Zärtlichkeiten, ließ sie sich von Sophia jedoch hin und wieder gefallen; das Spielzeug, das Max ihm kaufte, interessierte ihn nicht mehr als eine Kartoffel, eine Schraube oder ein Zweig, und den Wasserstrahl aus dem Hahn, diesen klaren, kühlen Zopf, der seine Form und seinen Glanz behielt, obwohl er ständig aus neuem Wasser bestand, konnte er sich minutenlang fasziniert ansehen. Niemand wußte, was er von diesem Kind halten sollte. Quinten war zu schön, um wahr zu sein, weinte selten, lachte nie und sagte keinen Ton, aber keiner zweifelte daran, daß in diesem Kopf unter dem schwarzen Haar einiges vorging. Einmal stand er auf dem Balkon und betrachtete reglos die Balustrade, ein graues Natursteingesims auf den hölzernen, amphorenartigen Säulchen. Max hockte sich neben ihn, um zu sehen, ob vielleicht irgendein Insekt dort herumlief, aber erst, als Quinten vorsichtig seinen Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle legte, sah er, daß sich dort ein kleiner, fossiler Trilobit aus dem Paläozoikum befand, etwa dreihundert Millionen Jahre alt. Im selben Moment wurde ihm klar, daß dieses Tier, das Quinten entdeckt hatte, etwa zu der Zeit gelebt hatte, in der der extragalaktische Cluster im Sternzeichen Coma Berenices – Haupthaar der Berenike – das Licht ausgesandt hatte, das jetzt die Erde erreichte.
Quinten sah ihn an.
»Das ist ein Trilobit«, sagte Max, »eine Art Kellerassel. Was möchtest du tun? Sollen wir ihn erlösen?«
Aus Sophias Nageletui nahm er eine Feile, plazierte ihre Spitze schräg neben dem kleinen Fossil und versetzte ihr mit einem Kieselstein einen leichten Schlag, so daß es wegsprang und im Kies verschwand. Aber Quinten bückte sich und hatte es bereits in der Hand.
»Wenn du groß bist«, sagte Max, »mußt du Paläontologe werden.«
Wenn Quinten verschwunden war, konnte er auch in den Kellerräumen sein. Auf dem Weg dorthin hängte er sich in der getäfelten Halle gegenüber der Wohnung der Spiers jedesmal an die Klinke von Herrn Verloren van Themaat. Dessen Tür öffnete sich jedoch nur an den Wochenenden und während der Ferien. Der Kunsthistoriker war etwa sechzig Jahre alt, lang, hager und leicht gebeugt, hatte schütteres, graues Haar und ein fein gezeichnetes Gesicht; hinter einer Brille mit dünner Metallfassung zeigte sich meistens ein zurückhaltender, abschätzender Blick, aber manchmal brach er unversehens in ausgelassenes, fast manisches Lachen aus, an dem all seine Gliedmaßen teilnahmen. Seine Frau Elsbeth war vermutlich kaum vierzig und sicher gut fünf Jahre jünger als Sophia; sie waren kinderlos. Max fürchtete sich ein wenig vor dem Professor, einem Akademiker und Intellektuellen der strengen, holländischen Art, der einem nichts nachsah. Mit Onno hatte Max die Intellektuellen einmal nach den katholischen Klosterorden eingeteilt: Er selbst erwies sich dabei schon bald als gewissenloser Jesuit, während Onno zunächst bei seiner Behauptung blieb, ein bäuerlicher Trappist zu sein, der immer schweigend seine Pflicht tat, sich aber schließlich den kultivierten, wohlerzogenen Benediktinern anschloß, die ihre Seele nach einem gelungenen, der Welt zugewandten Leben Gott widmeten. Themaat war in diesem Spektrum ein strikter Kartäuser, der ihn, Max, soweit es nicht die Astronomie betraf, für einen intellektuellen Schwerenöter hielt.
Wenn Quinten auf Zehenspitzen und die Hand noch auf der Klinke im Türrahmen erschien, veränderte sich sogar in dem steifen Dozenten etwas. Wenn er in seinem Schaukelstuhl saß und las – und er las immer –, legte er das Buch weg, faltete die blassen Hände im Schoß und sah das hereinkommende Kind an. Anders als bei den Spiers, die gediegen antik eingerichtet waren, machte sein Zimmer den Eindruck einer überdimensionierten Studentenbude, und zwar von den abgeschabten Perserteppichen und dem alten Schreibtisch bis hin zu den verschlissenen braunen Ledersesseln und dem zerbrochenen Hockeyschläger in einem Schirmständer. Obwohl es eine Zweitwohnung war, war die lange Wand gegenüber den Fenstern bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt. Hier und da hingen eingerahmte Architekturzeichnungen, die meisten ein wenig schief, aber Quintens erster Gang
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