Die Entdeckung des Himmels
bewachsen war, die ihm bis zur Taille reichten.
»Das ist doch nicht dein Ernst?« sagte er.
Aber Quinten führte ihn zu einem schmalen, gewundenen Pfad, der aus niedergetretenen Brennesseln bestand, die sich teilweise jedoch wieder aufgerichtet hatten. Da Quinten kleiner war als die teuflische Brut, ließ er Onno den Vortritt. Seufzend steckte dieser seine Hosenbeine in die Socken, hob einen Zweig auf und folgte dem Pfad mit schmatzendem Schuh, wütend und voller Haß schlug er auf jede Nessel ein, die sich ihnen in den Weg stellte.
»Was tust du mir bloß an!« rief er. »Hätte ich doch nie geheiratet!«
Nach dreißig oder vierzig Metern standen sie plötzlich vor einem viereckigen Grabstein am Fuß einer kleinen, konisch zulaufenden Säule.
»Was ist denn das?« sagte Onno perplex. Er ging in die Hocke, so daß sein zerschrammtes Gesicht mit dem Quintens auf einer Höhe war. Mit dem Zeigefinger fuhr er über die in den Stein gemeißelten Buchstaben: Deep Thought Sunstar.
Er sah Quinten an. »Soll ich dir mal was sagen? Hier liegt ein Pferd begraben. So heißen Rennpferde.« Er stand auf. »Aber wer begräbt schon ein Pferd? Pferde gehen doch zum Pferdemetzger?«
Und dann geschah das, was ihn nach einem Augenblick der Sprachlosigkeit dazu brachte, Quinten in seine Arme zu schließen und triumphierend mit ihm durch die Brennesseln, die Blüten und an dem geometrischen Stämmetanz vorbei zurück zum Schloß zu rennen: Quinten streckte den Finger in Richtung der kleinen Säule, lehnte sich ein wenig zurück und sagte mit einem Lachen:
»Obelisk.«
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Weitere Expeditionen
In Noordwijk streifte das Licht des Leuchtturms alle vier Windrichtungen, und so strichen auch die vier Jahreszeiten in großartigen Wellen über Groot Rechteren. Max kannte ihren Wechsel eigentlich nur aus Amsterdam: von einem dieser Tage im Februar oder März, wenn er morgens auf die Straße trat, in den ersten, unbeschreiblichen Frühlingsduft, der ebenso unbestimmbar war wie die Dezimalstellen von π, dann der staubige Sommer, wo die Stadt von Touristen überquoll, und der sich plötzlich in einen feuchten, herben Herbst und dann in einen bleichen Winter verwandelte, in dem die Straßenpflaster und Häuserwände plötzlich die abweisendste Seite der Welt auszudrücken schienen – aber das alles gab es für ihn eigentlich nur im Vorbeigehen, nur in den kurzen Zwischenzeiten, in denen er von einem Haus ins andere ging. War in der Stadt die Natur nur leise Hintergrundmusik, so saß er mit Quinten und Sophia im Schloß mitten in einem tosenden Konzertsaal.
Frühling und Herbst kamen mit kolossalem Auftritt, die Sommer waren heißer und trockener, die Winter kälter und weißer.
Diese ständige Veränderung, wie er Onno gegenüber einmal behauptet hatte, sei die Quelle jeglicher Kreativität; die Einförmigkeit der Natur zwischen den Wendekreisen führe zu einem kulturellen Stillstand. Die Tropen seien ein ununterbrochenes Dampfb ad und immer so grün wie die Polgebiete weiß, denn erst der Viertakt der gemäßigten Breitengrade sorge für das Wechselbad, das den Menschen wach halte. Das sei ihm erst auf dem Land richtig klargeworden. Worauf Onno geantwortet hatte, auf dem Land sei es vielleicht doch etwas zu drastisch und der sich jährlich wiederholende Viertakt habe wohl auch etwas sehr Einförmiges: wirkliche Kreativität gebe es nur in der Stadt. Er hatte gesehen, daß Onno sich die Frage verkniff, ob seine Kreativität auf dem Land denn tatsächlich zugenommen habe, aber obwohl er sich nicht über seine Arbeit beklagen konnte, wollte er auf dieses Thema nicht näher eingehen.
In Drenthe war nicht nur die Dunkelheit dunkler, die Stille stiller, das Gewitter heftiger und der Regenbogen leuchtender als in Amsterdam, sogar der Regen war dort anders. Wenn ein Waldspaziergang auf dem Programm stand, fiel es Max erst gar nicht ein zu warten, bis es trocken war, und schon gar nicht, einen Regenschirm mitzunehmen. Alle drei zogen sie grüne Gummistiefel und ihre Öljacken an, zogen sich die Kapuzen über den Kopf und wateten durch den Schlamm, während in der Ferne der Baron und seine Freunde ihre Gewehre abfeuerten. Einmal, als es nicht mehr regnete, aber das Wasser überall noch von den Blättern tropfte, sagte Max: »Wenn es aufhört zu regnen, fangen die Bäume an zu regnen.«
»Dann weinen sie«, sagte Quinten.
»Also bist du jedenfalls kein Baum«, sagte Sophia.
Quinten winkte mit den Armen, sprang mit beiden Füßen in eine
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