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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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angeschrägt aus dem dunklen Wasser ragte, stammten offenbar noch aus dem Mittelalter.
    Beschämt wurde sich Onno bewußt, daß er zum ersten Mal allein mit Quinten war. Was für ein degenerierter Vater er doch war, und wie selbstverständlich er Max alles überließ – aber warum eigentlich? Die kleine Hand erinnerte ihn an die eigene in der großen seines Vaters, als er mit ihm über die Pier von Scheveningen gegangen war. Nebeneinander hatten sie sich über das Geländer gebeugt und auf die großen, rechteckigen Netze geschaut, die ächzend und knirschend aus den Wellen gezogen wurden und in denen dann zehn oder zwanzig unschuldige Fische zappelten. Damals hatte er noch die Korkenzieherlöckchen gehabt und die rosa Kleidchen getragen, in die ihn seine Mutter gesteckt hatte. Die Erinnerung versetzte ihm einen Schock: War Quinten vielleicht das Wesen, das seine Mutter in ihm hatte sehen wollen und das sie im nachhinein durch ihn, Onno, hervorgebracht hatte? Er blieb kurz stehen und sah den Jungen an. Ja, wenn man es nicht wußte, konnte man ihn auch für ein Mädchen halten, sogar ohne Kleid und Löckchen.
    »Lerne von deinem alten weisen Vater, Quinten«, sagte er, während sie an einer Schonung vorbei zu dem Kiefernwald spazierten, »daß das Neue immer auch das Alte ist. Alles Alte war einmal neu, und alles Neue wird einmal alt sein. Das Allerälteste ist jedoch das Heute, denn es hat nie etwas anderes gegeben als die Gegenwart. Nie hat jemand in der Vergangenheit gelebt, und in der Zukunft erst recht nicht. Da gehen wir jetzt, du und ich, ich bin früher genauso mit meinem Vater gegangen, über die Pier von Scheveningen, die im Krieg von den Deutschen gesprengt worden ist. Er hat mir von dem wunderbaren Fischfang erzählt, und daß der Herr seine Jünger Menschenfischer genannt hat. Das ist unsagbar lange her, fünfunddreißig Jahre, aber für deinen Ziehvater sind fünfunddreißig Jahre wie gestern. Und der Krieg ist für ihn bloß nicht gestern, sondern heute, heute morgen, gerade jetzt. Ich habe übrigens nicht den Eindruck, daß du ihn sehr magst, oder täusche ich mich? Sag mal ehrlich: Wenn ich das richtig sehe, verstehst du mich ganz gut, auch wenn du kein Wort sprichst.
    Stimmt’s? Hältst du uns vielleicht alle zum Narren? Verstehst du vielleicht alles und hast lediglich keine Lust zu sprechen?
    Steigst du nachts aus dem Bett und liest heimlich die Divina Commedia ? Ja, so wird es sein, glaube ich. Du ärgerst dich natürlich über die verharmlosende Übersetzung, die Max im Schrank stehen hat, und von Vergil hast du gar nichts gefunden. Stimmt’s? Gib es ruhig zu.«
    Quinten antwortete nicht, wußte aber offenbar genau, wo er hinwollte. Für die Spaziergänger bildeten die Stämme des mit dem Winkelmesser angelegten Nadelwaldes eine Geometrie aus rotierenden und vorspringenden Diagonalen und Mittelsenkrechten, bis zu der Grenze, wo der Nutzwald in einen verwilderten Park überging, der voll war von kreuz und quer liegenden kahlen, entwurzelten Bäumen, die von verschiedenen Stürmen gefällt worden waren. Wo der Wald sich etwas lichtete, wucherte üppig blühender Rhododendron. Quinten ließ Onnos Hand los und ging in Richtung der Sträucher, als sei kein Widerstand zu überwinden, während sich Onno mit den Händen vor dem Gesicht durch das widerspenstige Geäst drängen mußte.
    »Wohin bringst du mich, in Gottes Namen?« rief er. »Das ist absolut nichts für uns, Quinten! Der Mensch gehört auf den Bürgersteig!«
    Als er sich schließlich durchgearbeitet hatte, traute er seinen Augen nicht. Sie standen am Rand eines großen, bizarr geformten Weihers, der ganz und gar von violetten Blütenbergen umstanden war; in vollkommener Stille glitten zwischen Wasserlilien die zwei schwarzen Schwäne dahin. In der Ferne schimmerte ein Turm des Schlosses durch die Bäume, der kleine See war offenbar mit dem Schloßgraben verbunden, aber für die Enten war es hier zu vornehm. Auch die aggressiven schwarzen Bleßhühner mit dem ordinären weißen Streifen auf dem Kopf fühlten sich hier offenbar fehl am Platze.
    Aber die beiden hatten ihr Ziel noch nicht erreicht. Unter den Zweigen hindurch ging Quinten weiter am Wasser entlang. Onno folgte ihm, suchte wehklagend Halt, blies sich die Blütenblätter vom Gesicht, rutschte aus und fluchte über seinen naß gewordenen Schuh. Als er sich erneut durch die Blütenwand gearbeitet hatte, stand er am Rand eines offenen Geländes, das dicht mit tiefgrünen Brennesseln

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