Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
eine Cousine oder ein Cousin auf Groot Rechteren zu Besuch, aber viel verband ihn nicht mit ihnen. Auch die Verwandtschaft ihrerseits schien ihn eher als eine Art außenstehendes Mitglied zu betrachten: Wenn selbst Onno im Kreise der Quists ein Fremdkörper war, wenn auch in den letzten Jahren weniger als vorher, dann noch viel mehr der kleine Quinten, der von seiner Großmutter und einem Wildfremden aufgezogen wurde und für sie jemand aus einer anderen Welt war. Außerdem war seine Schönheit »unquistisch«, wie seine Tante Antonia es ausdrückte: ein Quist war nicht schön. Schönheit paßte eigentlich nicht zu anständigen Menschen.
    Um heikle Situationen zu vermeiden, ging Helga nicht zur Beerdigung, und auch Max hatte das Gefühl, daß er da nicht hingehörte. Er brachte Quinten und Sophia nach Den Haag zum Ministerium, wo sie von Frau Siliakus, die Onno als seine Sekretärin behalten hatte, empfangen wurden, und fuhr weiter zur Sternwarte nach Leiden.
    Onno saß hinter seinem Schreibtisch, über ihm das Porträt der Königin, und sprach mit einem Beamten.
    »Ganz und gar allein auf der Welt!« rief er in gespielter Verzweiflung, als sie eintraten, aber es war weniger die Verzweiflung, die er spielte, als das Spielen seiner Verzweiflung.
    Nachdem er einige Unterschriften geleistet hatte, die aussahen wie die Peitsche eines Dompteurs im Moment des Knalls, ein Telefongespräch geführt und hier und da auf den stillen Gängen den Kopf in eine Tür gesteckt hatte, fuhren sie in seinem Wagen zur Statenlaan. Hinter geschlossenen Gardinen waren Dutzende von Angehörigen und engen Freunden versammelt und unterhielten sich gedämpft, ließen sich von Coba Kaffee einschenken und nahmen ein Mandelplätzchen aus der großen Schale.
    Allenthalben war spürbar, daß jetzt Onno das Oberhaupt des Clans war, auch wenn er, verglichen mit dem Verstorbenen, ein Nichts, ein armseliger Staatssekretär war, aber der Verstorbene war nun einmal verstorben. Man machte ihm Platz, der Kommissar der Königin drückte ihm die Hand, der Oberstaatsanwalt sah ihm tief in die Augen, er gab Dol einen Kuß und legte einen Arm um die Schultern seiner Mutter, die in einem Rollstuhl saß und zu weinen begann, als sie ihn sah.
    Dann ging er mit Quinten an der Hand ins Vorderzimmer, wo Kerzen brannten und der atemberaubende Duft ganzer Berge von Blumen hing. Der alte Quist lag, nach einem Leben für Königin und Vaterland, aufgebahrt neben dem Pult mit der kolossalen, aufgeschlagenen Bibel.
    Quinten erschrak. Der Großvater lag tatsächlich in einer Kiste , sie hatten Opa in eine Kiste gesteckt! Der Kopf auf dem Satinkissen hatte sich stark verändert. Quinten erinnerte sich an das füllige, schwere, mächtige Gesicht, das immer auch etwas Gütiges gehabt hatte – doch jetzt lag dort plötzlich das Marmorbild eines Raubvogels, ein fanatischer Habicht, ein paarmal hatte er gesehen, wie sich ein solcher Vogel in flatternder Verdammnis auf eine Feldmaus stürzte. Auf der Stirn hatte der alte Quist merkwürdige Flecken, und zwischen den Lippen glitzerte es, als seien sie mit Klebstoff zusammengeklebt worden.
    »Ist das wirklich Opa?« flüsterte er.
    »Nein«, sagte Onno, »Opa gibt es nicht mehr.«
    Auf der anderen Seite des Sarges warf ihm seine Schwester Trees einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Opa hat das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht«, sagte sie zu Quinten.
    Mit großen Augen starrte er auf den reglosen Inhalt des Sargs, ohne zu begreifen, was er sah. Da lag etwas Unmögliches. Alles, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte, war möglich gewesen, denn es existierte; aber da lag nun etwas, das unmöglich gesehen werden konnte und das er dennoch sah. Es war Opa, und es war nicht Opa!
    Trees begann leise aus der Bibel vorzulesen.
    »Und Er sagte zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn.«
    Erstaunt sah Quinten sie an und dachte im selben Augenblick an die dunkle, sich windende Straße der Ameisen, die an den Türen der Anrichte hinauf- und herunterkletterten, wenn jemand Zucker verstreut hatte. Onno mußte sich zurückhalten, um sie nicht anzufahren, daß sie selbst doch weiß Gott die gesellschaftliche Jakobsleiter vorgezogen habe und dieses widerliche Vorlesen nur eine für Quinten bestimmte Farce sei.
    Als kurz darauf sechs schwarzgekleidete Männer mit einem Deckel erschienen, sah Quinten, wie Oma To, gestützt von Onkel Diederic,

Weitere Kostenlose Bücher