Die Entdeckung des Himmels
ändert die Sache natürlich.«
»Macht nichts, meine Herren«, sagte Onno großzügig. »Es hat Ihnen doch wohl auch Spaß gemacht, so schnell zu fahren?«
»Einerseits schon, ja. Aber es war nicht gerade ungefährlich.«
Als sie hineingingen, sagte Onno zu Quinten:
»Das hätte ziemlich unangenehm für mich werden können.«
Quinten zitterte ein wenig vor Anspannung: Daß er plötzlich in solcher Windeseile zu seiner Mutter gebracht werden würde, hatte er nicht erwartet. Nach dem Autorennen eben schienen die Rollstühle auf dem Backsteinflur noch viel langsamer zu fahren, als sie es ohnehin schon taten. Die Direktorin erwartete Onno bereits, aber er gab zu verstehen, daß er lieber allein ginge, er kenne den Weg. Der große Aufzug brachte sie nach oben, und mit der Hand auf der Klinke sagte er:
»Du brauchst dich nicht zu erschrecken.«
Dann sah Quinten seine Mutter. Da war sie: genau dort, an diesem Platz in der Welt, und nirgendwo sonst. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten. Er ging über die Schwelle und betrachtete die reglos Schlafende, nur das Laken hob und senkte sich langsam. Über den Ohren hatte sie die ersten grauen Haare.
Nach einer Weile fragte er:
»Kann Mama wirklich nie mehr aufwachen?«
»Nein, Quinten, Mama hat schon geschlafen, als du geboren wurdest. Sie kann nichts mehr hören und nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen – gar nichts mehr.«
»Aber das geht doch gar nicht? Sie ist doch nicht tot, so wie Opa. Sie atmet doch.«
»Sie atmet, ja.«
»Träumt sie?«
»Das weiß niemand. Die Ärzte meinen, daß sie nicht träumt.«
»Woher wollen die denn das wissen?«
»Sie sagen, daß sie das mit bestimmten Geräten messen können.
Nach ihrer Meinung darf man eigentlich gar nicht sagen, daß Mama schläft.«
»Was denn?«
Onno zögerte, sagte aber doch:
»Daß es sie nicht mehr gibt.«
»Obwohl sie nicht tot ist?«
»Obwohl sie nicht tot ist. Das heißt«, sagte Onno und verzog das Gesicht, »Mama ist tot, obwohl sie doch nicht tot ist … ich meine, was an Mama nicht tot ist, ist nicht Mama. Es ist nicht Mama , die atmet.«
»Wer denn sonst?«
»Niemand.«
»Das geht doch gar nicht.«
»Das geht absolut nicht, aber so ist das nun mal.«
Quinten sah wieder zu dem Gesicht auf dem Kissen. Die Augen waren zu, die schwarzen, halbrunden Wimpern sahen aus wie manche der Pinsel, die bei Theo Kern in einem Steinkrug steckten, die ihrerseits wieder aussahen wie ägyptische Palmsäulen aus einem Buch von Herrn Themaat; die Nase war klein und gerade, an der Seite leicht gerötet und entzündet, der Mund geschlossen, die Lippen trocken. Konnte es etwas noch Unbegreiflicheres geben als seinen toten Opa letzte Woche im Sarg? In dem Bett lag eine atmende, lebende Frau – aber sie wollten doch seine Mutter besuchen? Wozu waren sie sonst hierhergefahren? War das jetzt seine Mutter oder nicht?
Und wenn es nun seine Mutter war und zugleich nicht seine Mutter, wer war er dann? Und wer war sein Vater? Seine Gedanken überschlugen sich, und plötzlich war es, als ob in seinem Kopf etwas schimmernd aufleuchtete, wie nachts im Bett, wenn er den Widerschein des Osterfeuers hinter den Bäumen sah, den haushohen Scheiterhaufen aus dürren Zweigen, den alle in und um Groot Rechteren zusammentrugen und den der Baron jedes Jahr von neuem auf der Wiese bei Klein Rechteren angezündet hatte; es kamen jedesmal Hunderte von Menschen aus der ganzen Umgebung, um das Feuer zu sehen.
»Mama ist zugesperrt«, sagte er und dachte einen Moment an Piet Keller.
Onno schob ihm einen Stuhl heran. Mit Bitterkeit stellte er fest, daß seine Familie jetzt zum ersten Mal vereint war: Vater, Mutter, Sohn, und sonst niemand.
Quinten sah ihn über das Bett hinweg an.
»Wie ist das gekommen, Papa?«
Onno nickte und erzählte ihm in groben Zügen die ganze Geschichte. Fast die ganze Geschichte; daß Ada vorher Max’
Freundin gewesen war, ließ er weg. Er erzählte von der Freundschaft zwischen ihm und Max und daß sie Tag und Nacht zusammengewesen waren, um Quinten begreiflich zu machen, warum ausgerechnet Max sein Ziehvater geworden war. Er erzählte von Adas Musikalität, von ihrer Arbeit in einem der besten Orchester der Welt. Als er zu ihrem Besuch in Dwingeloo kam und zu dem Unfall in der Sturmnacht, kehrte die Erinnerung mit solcher Heftigkeit zurück, daß er beinahe die Fassung verlor.
»Danach warst du noch drei Monate lang in Mamas Bauch.
Das war etwas ganz Besonderes, es stand später sogar in
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