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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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zurücklegen?« fragte Quinten.
    »Sieht man, daß du da gegraben hast?«
    »Ich habe wieder Blätter darübergemacht.«
    »Sehr schön. Wir haben jetzt Oktober, und bis der Boden wieder sichtbar ist, wird es Februar oder März sein. Dann ist nichts mehr von deiner Graberei zu sehen, nur die Sachen sind weg, aber das ist nicht mehr unser Problem. Vielleicht graben sie die Dinge auch erst in drei oder vier Jahren wieder aus, denn für meine Begriffe sieht das alles noch lange nicht alt genug aus. Nein, vermutlich passiert jetzt gar nichts. Wirf die Sachen am besten gleich in den Mülleimer.«
    »Diese Verbrecher«, sagte Quinten empört. »Sollen wir sie nicht anzeigen?«
    »Unbedingt«, sagte Onno. »Rechtlich gesehen, ist das sogar unsere Pflicht. Aber ich schlage vor, es zu lassen, denn das macht nur Scherereien. Es ist natürlich eine Schande, wenn ich als Politiker so etwas sage, aber die Polizei kann uns nicht übelnehmen, daß wir nicht auf die Idee gekommen sind, auf die wir natürlich sofort gekommen sind.«

    Offenbar hatte die Polizei noch andere Quellen, die Wahrheit herauszufinden, denn ein Jahr später fuhr plötzlich ein blauer Streifenwagen an der Orangerie vor, Polizeibeamte in Zivil und ohne Dienstmützen warfen den Inhalt der Vitrinen in Mülltüten und nahmen Etienne und Herr Verdonkschot fest, nahezu alle Bewohner sahen schweigend zu. Quinten zitterte, als er sie so hilflos ins Auto steigen sah, er sah zu Sophia auf und sagte: »Papa hat immer recht«, woraufh in sie nur kurz einen Finger auf den Mund legte. Nicht auszudenken, dachte er, wenn das hier passiert wäre, weil sein Vater sie angezeigt hätte. Hinter dem vergitterten Fenster winkte Etienne ihm noch kurz zu. Am nächsten Tag wurde von dem Fall auch in den überregionalen Zeitungen berichtet. Damit war die Position der beiden Freunde auf Groot Rechteren unhaltbar geworden, und der Baron kündigte ihnen fristlos. Piet Kellers Frau versorgte den Ziegenbock noch eine Woche, aber nach dem Auszug war auch er verschwunden, und die Orangerie blieb unbewohnt.
    Quinten vermißte das Tier am meisten. Noch Wochen später setzte er sich manchmal auf den großen Findling und sah Gijs dann wieder auf sich zuspringen – aber er war nicht da, die Luft war leer, und diese Leere und die Abwesenheit waren so abgrundtief und vollkommen, daß er sie kaum ertragen konnte. Es schien, als sei die ganze Welt davon befallen, der Wald, das Schloß, alles war erfüllt von Gijs’ unmöglicher Abwesenheit, so daß alles, was da war, in irgendeiner Weise auch nicht da war, eigentlich nicht dasein konnte oder jedenfalls nicht dasein könnte. Mit wem sollte er sich jetzt unterhalten? Als er auf dem Stein einmal in Schluchzen ausgebrochen war, beschloß er, nicht mehr hinzugehen.
    Ein ähnliches Gefühl hatte er, als am Ende des Sommers eine Wespenplage herrschte. An allen Fenstern waren Fliegengitter angebracht, aber es war, als drängten sie durch die meterdicken Wände, in jedem Zimmer summten sie zu Dutzenden mit ihren schwarzgelben Leibern unter der Decke herum, und dazu diese gemeine Farbkombination, mit der sie jedem zu verstehen gaben, daß von ihrer Seite kein Erbarmen zu erwarten war! Eigentlich ganz schön dumm von ihnen, fand Quinten, denn wenn man ein Schuft war, dann zeigte man das doch nicht öffentlich, dann mußte man in Hellblau oder Rosa daherkommen. Aber das Schwarzgelb war natürlich dazu da, um gefräßige Vögel abzuschrecken. Keiner wußte, woher sie so plötzlich gekommen waren, außerdem schien es, als seien drinnen mehr Wespen als draußen, so daß die Fliegengitter vielleicht die entgegengesetzte Wirkung hatten. Und als er eines Nachmittags auf dem hinteren Dachboden herumstreunte, hielt er plötzlich inne und neigte lauschend den Kopf. Ihm wurde klar, daß schon die ganze Zeit ein kaum hörbares Vibrieren in der Luft gelegen hatte, eigentlich eher ein Gefühl als ein Geräusch. Auch hier summten überall Wespen, aber das Geräusch kam woanders her. Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen. Er wußte, daß sie in eine kleine Kammer führte, wo früher vielleicht einmal die Waschfrau geschlafen hatte und jetzt nur einige verrostete Bettgestelle standen. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür. Er erstarrte. Es war, als sähe er etwas Heiliges, etwas, das er eigentlich nicht sehen durfte.
    Wie ein riesiger Tropfen aus einer anderen Welt hing ein Wespennest von der Decke, nicht genau in der Mitte, sondern

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