Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
um das Grab standen und die Königin nun die Hand von Oma To hielt, reichte der Trauerzug noch immer bis zur Kirche. Viele trugen Blumensträuße und immer noch mehr Blumen, warum eigentlich ausgerechnet Blumen? Wären Steine nicht viel besser gewesen? Während der Ministerpräsident die unschätzbaren Verdienste würdigte, die der Verstorbene dem Königreich erwiesen hatte, hielt Quinten die Hand seines Vaters und schaute auf den Sarg. Er wurde von sechs schwarzgekleideten Männern flankiert, dahinter, an der Friedhofsmauer, standen vier steinalte Herren in einer Reihe, die alle ein buntes Band im Knopfloch hatten. Zwischen den Tannenzweigen sah er die Finsternis der Grube, in der Opa gleich für immer verschwinden würde.
    »Papa?« flüsterte er, als der Ministerpräsident zu Ende gesprochen hatte. Er sah seinen Vater an, und erst da bemerkte er, daß Onnos Wangen naß vor Tränen waren. Er wagte nichts mehr zu fragen, aber mit heiserer Stimme antwortete Onno: »Ja?«
    »Ich möchte Mama aber so gerne einmal sehen.«
    Onno schloß die Augen und nickte schweigend.

    Mit vier Jahren hatte er zum ersten Mal etwas über seine Mutter gesagt, und jetzt war er fast doppelt so alt und wußte immer noch nichts von dem Unfall; zudem schien er vergessen zu haben, daß Adas Bild auf dem Kaminsims stand, keiner hatte es ihn je anschauen sehen. Alle waren sich einig, daß er nur in Gesellschaft seines Vaters zu seiner Mutter gehen sollte.
    Eine Woche später ließ Onno Frau Siliakus einen Termin mit den Philipslaboratorien absagen, dann rief sie im Pflegeheim an und bat im Namen des Staatssekretärs, die Sonde aus Adas Nase entfernen zu lassen. Obwohl er noch immer wenig Zeit hatte, holte er Quinten im Schloß ab und ließ den Chauffeur mit hundertfünfzig Stundenkilometern über die Landstraße nach Emmen fahren. Es stand noch eine Besprechung mit der Direktion der Gasunion in Groningen auf seinem Terminkalender; abends mußte er nach Den Haag zu einem Staatsbankett zu Ehren eines afrikanischen Präsidenten, dessen Name ihm entfallen war – ohne Helga, denn Konkubinen waren bei Hofe nicht willkommen.
    Sie saßen nebeneinander auf dem Rücksitz, aber über Ada hatten sie immer noch nicht gesprochen. Als Onno ihn fragte, was er eigentlich so alles treibe, erzählte Quinten, er sei letztens im Atelier von Theo Kern gewesen. Der Bildhauer arbeite gerade an irgendeiner Gedenktafel; die Buchstaben, die er einmeißle, hämmere er nicht von links nach rechts, sondern von rechts nach links; dabei sei es praktischer, sagte er, den Meißel in der linken und den Hammer in der rechten Hand zu halten, weil es von rechts nach links leichter gehe. Quinten machte es ihm vor und fragte:
    »Ob das etwas damit zu tun hat, daß die Menschen früher von rechts nach links geschrieben haben? Weil die meisten Menschen Rechtshänder sind?«
    Onno sperrte die Augen auf und seufzte tief.
    »Ja, Quinten«, sagte er. »Ja, das hat vielleicht sogar alles damit zu tun. Auch im politischen Sinne übrigens.«
    »Das habe ich mir schon gedacht.«
    »Von wem weißt du eigentlich, daß die Menschen früher von rechts nach links geschrieben haben?«
    »Von Herrn Spier.«
    Onno hatte plötzlich das Gefühl, eines Tages vielleicht noch etwas von seinem Sohn lernen zu können. Dann schwieg er im Bewußtsein, daß er kaum etwas zu seiner Erziehung beitrug, weniger noch als dieser Herr Spier oder irgendeiner der anderen Schloßbewohner. Er konnte sich natürlich vornehmen, ihm mehr Zeit zu widmen, aber daraus würde dann wie immer nichts werden.
    Als sie sich Emmen näherten, sah der Fahrer in den Rückspiegel und sagte: »Die Polizei fährt hinter uns her.«
    Onno drehte sich um. Es war ein kleiner Streifenwagen mit Fernlicht.
    »Schneller«, sagte er.
    »Aber Herr –«
    »Schneller! Das ist ein Dienstbefehl.«
    Der Fahrer beschleunigte auf hundertsiebzig, hinter ihnen begann die Sirene loszuheulen, und am Eingang von ›Vreugdenhof‹ stellte sich das Polizeiauto quer vor sie, als ob es sie überholt hätte. Aufgeregt sprangen zwei Polizeibeamte heraus und erkannten kurz darauf, mit wem sie es zu tun hatten.
    »Ach, Sie sind das, Herr Quist«, sagte der eine entgeistert.
    »Es kam mir merkwürdig vor«, sagte Onno. »Ich dachte, daß es sich vielleicht um einen Überfall handelte, hier, bei all den Moluckern und Zugentführungen –«
    »Ach, so ist das«, sagte der Beamte, jedoch mit einer Spur von Mißtrauen im Blick. »Natürlich. Entschuldigen Sie bitte, das

Weitere Kostenlose Bücher