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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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einen letzten Kuß auf Opas Stirn drückte und der Deckel von zwei Seiten über den Sarg gehoben wurde.
    Er sah, wie sich der Schatten über Opas Gesicht legte, und ging ein wenig in die Knie, um einen allerletzten Blick darauf zu werfen. Im selben Augenblick, als es in der Dunkelheit verschwand und Holz auf Holz stieß, hörte er, wie aus Onnos Brust ein Seufzer kam wie von einem Tier, das lange gefangen war und jetzt endlich befreit wurde. Er sah zu ihm auf und nahm seine Hand, und als Onno die kleine Hand in der seinen fühlte, war ihm, als wäre er der Sohn seines eigenen Sohnes.
    Quinten schauderte es, als er draußen die lange Reihe großer, schwarzer Limousinen sah. Auf der anderen Straßenseite gafften Nachbarn mit verschränkten Armen, wer alles aus der Villa kam. An der Spitze des Zuges blickten zwei Polizisten auf Motorrädern mit laufendem Motor unbeweglich geradeaus, als sei der Tod ihr Eigentum. Der Sarg wurde in das vorderste Auto geschoben, die Blumen und Kränze in die beiden nächsten. Auf Anweisung eines geschäftig hin und her laufenden, kahl werdenden Mannes mit Papieren in der Hand bekam Quinten einen Platz im dritten Wagen und setzte sich auf einen Klappstuhl gegenüber von Sophia, Diederics Sohn Hans, der jetzt Gesandter in Liberia war, und Hadewych; Onno hatte sich neben den Fahrer gesetzt. Im gesetzten Tempo der anderen Welt fuhren sie nach Wassenaar, an den Kreuzungen salutierten die Polizeibeamten. Vor einer Kirche im Dorfzentrum, wo die Schaulustigen mit Sperrgittern auf Abstand gehalten wurden, parkten bereits zahlreiche große Wagen; aber außer einem Fernsehteam, Fotografen, Fahrern und viel Polizei waren nur wenige Menschen zu sehen. Aus den offenen Türen erklang noch für einige Augenblicke Orgelmusik.
    Als Quinten den Kirchenraum betrat, wurde er sowohl von den vielen Leuten als auch von der Stille überwältigt. Alle in der überfüllten Kirche hatten sich erhoben. Die beiden vorderen Reihen waren leer; als er in der Mitte der zweiten Reihe zu dem Stuhl ging, der ihm von dem Mann mit den Papieren angewiesen wurde, sah er in der Mitte der dritten die Königin stehen. Nicht nur sie hatte ihren Blick auf ihn gerichtet, es kam ihm vor, als ob alle ausschließlich ihn ansahen; aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß alle Welt ihn schön fand.
    Mit der Königin unmittelbar hinter sich und Oma To vor sich, hörte er den Pfarrer und die Psalmen und Gesänge, aber er hörte nicht zu. Er hatte schon eine ganze Weile nicht mehr daran gedacht, aber die Königin war natürlich nicht seine Mutter, denn sie schlief nicht nur nicht, sie war auch viel zu alt; außerdem hatte sie ihm kein Zeichen des Erkennens gegeben. Neben ihm saß Oma Sophia, auf der anderen Seite Rudy aus Rotterdam, der so alt war wie er. Mit einem Finger drückte Rudy einen Gummiring auf seinen Oberschenkel, den er mit der anderen Hand immer dehnte und wegschnappen ließ, bis Paula, seine Mutter, das Spiel beendete.
    Als der Trauergottesdienst zu Ende war und er zwischen Onno und Sophia auf dem schmalen Weg zwischen den Gräbern hinter dem Sarg herging, fragte er plötzlich: »Papa?«
    »Ja?«
    »Warum stand Mama nicht in der großen Anzeige in der Zeitung?«
    Onno sah ihn an und wußte nicht gleich, was er antworten sollte. Er hatte sich die Sache reiflich überlegt und auch mit Helga und Dol darüber gesprochen. Beide waren sie übereingekommen, Ada zu erwähnen, auch wenn sie unerreichbar war; aber er selbst war der Ansicht gewesen, daß sie das keineswegs war, denn Unerreichbarkeit würde die Möglichkeit der Erreichbarkeit einschließen, und die bestand nun gerade nicht mehr. Konnte man denn von einer Pflanze behaupten, sie sei »unerreichbar«? Seine Schwester hatte das als »Wortspielerei« abgetan, worauf er geantwortet hatte, er habe offenbar sowohl eine andere Auffassung von Worten als auch von Spielerei. Nur seine Schwiegermutter war mit ihm einer Meinung gewesen. An Quinten hatte dabei niemand gedacht. Verwirrt sah Onno Sophia an. Es war das zweite Mal in seinem Leben, daß Quinten über Ada gesprochen hatte.
    »Wir dürfen Mama nie stören.« Er hörte, wie er es sagte, und war sich gleichzeitig bewußt, daß dies im Widerspruch zu seinem eigentlichen Motiv stand.
    »Wacht sie sonst auf?«
    Hilfesuchend wandte er sich an Sophia.
    »Nein, mein Junge«, sagte sie. »Das kann sie nicht mehr.«
    Quinten nickte schweigend.
    Der alte Dorffriedhof war für die Trauergäste zu klein. Als sie in einem Halbkreis

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