Die Entdeckung des Himmels
»willst du jetzt also bestehlen.«
»Ich hole mir etwas, von dem er nicht einmal weiß, daß er es hat.«
»Und du glaubst, daß das kein Stehlen ist? Vielleicht ist das sogar noch schlimmer. So etwas tut man nicht. Und das ist keine Frage der mosaischen Moral, sondern der Erziehung.«
»Du hättest mich ja erziehen können«, sagte Quinten, ehe er sich’s versah. Es tat ihm sofort leid. »Entschuldige, ich habe es nicht so gemeint.«
Onno nickte, ohne ihn anzusehen.
»Laß nur. Du hast ja recht.«
Nein, überlegte Quinten, er war kein Dieb, er hatte noch nie etwas gestohlen. Er wollte die Steine doch nicht für sich!
Wenn er sie erst einmal haben würde, hätte er sie dennoch genausowenig wie die Patres jetzt. Diese Passionisten würden ihn bestimmt verstehen – oder nein, sie waren natürlich nur in den Orden eingetreten, um in den Himmel zu kommen, und erwarteten eine dicke Belohnung. Er selbst erwartete nichts, und sein Vater versuchte offenbar bis zum letzten Augenblick, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Aber wenn er kein Dieb war, was war er dann?
Um das Vertrauen der Patres ganz für sich zu gewinnen und um bei einem eventuellen Debakel ihre Frömmigkeit beweisen zu können, hatte Quinten Onno dazu überredet, über die Heilige Treppe nach oben zu gehen. Sie passierten das Portal und warteten vor der untersten Stufe wie vor einer Kasse, bis sie an der Reihe waren. – »Gleich«, sagte Onno leise, »werde ich hier also niederknien, und vom kalvinistischen Himmel aus wird mein Vater zur Rechten Gottes erzürnt auf mich herabblicken und dann bewußtlos vom Stuhl fallen. Alles deine Schuld.« Und als ein Platz frei wurde und er auf seinen Stock gestützt tatsächlich niederkniete, neigte er sein Haupt und murmelte: »Vergebt mir, Vater, denn ich weiß nicht, was ich tue. Das weiß nur Euer Enkelsohn.«
Es klang wie ein Gebet, und Quinten hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Immer öfter kam diese Mischung aus Witz und Ernsthaftigkeit zurück, die er von früher her so gut kannte. Oder besser: es war keine Mischung, denn das eine war immer zugleich auch das andere – die Scherze waren ernst, ohne dadurch weniger scherzhaft zu sein. Vielleicht hatte das abgesehen von Max niemand je verstanden, und vielleicht hatte ihre Freundschaft genau darauf beruht.
Auch Quinten kniete sich mit gefalteten Händen auf die erste Stufe. Er war nicht so weit gegangen, die achtundzwanzig offiziellen Gebete auswendig zu lernen, aber nun eine Viertelstunde lang absolut sinnlos die Lippen zu bewegen, erschien ihm auch lächerlich, also betete er lateinische Konjugationen herunter:
»Hic, haec, hoc. Hic, huius, hoc. Hic, huic, hoc. Hunc, hanc, hoc. Hoc, hac, hoc. Hi, hae, haec. Horum, harum, horum.
Horum, his, horum. Hos, has, haec. Hos, his, haec.«
Die holzverkleideten Stufen war niedrig und breit; die Stufen zwei und drei waren leer, auf der vierten knieten eine Nonne und ein massiger, bäuerlich wirkender Mann. Seine Schuhsohlen, die Quinten genau inspizierte, hatten dicke Rillen, zwischen denen kleine Steinchen klemmten. Am liebsten hätte er ein Messer aus seinem Rucksack genommen, um sie herauszukratzen, sie wären mindestens zwei Meter weit geflogen. Als die Nonne und Steinchensohle sich mühsam wie Behinderte zur nächsten Stufe hinaufgearbeitet hatten, rückten er und Onno nach. Aus den Augenwinkeln sah er seinen Vater ungeschickt mit Stock und Koffer hantieren.
Nach fünf, sechs Stufen, die jeweils von der Nonne geküßt wurden, wußte er keine Pronomina mehr und machte mit Verben weiter:
»Capio, capis, capit, capimus, capitis, capiunt. Capiam, capias, capiat, capiamus, capiatis, capiant. Capiebam, capiebas, capiebat, capiebamus, capiebatis, capiebant. Caperem, caperes, caperet, caperemus, caperetis, caperent. Capiam, capies, capiet, capiemus, capietis, capient.«
Je höher er kam, desto unregelmäßiger wurden die Verben, und allmählich geriet er in eine leichte Trance. Wie war das noch? Deponentia, semideponentia – Volebamus, ferebatis, ferrebaris –. Durch ein kleines Glasfenster im Holz waren auf dem weißen Marmor fahlbraune Flecke zu sehen: Christi Blut natürlich. Conficit, confecit, confectus –.
Beim vergitterten Fenster der Kapelle gegenüber dem Altar erhoben sie sich.
»Wenn uns die Kraft Gottes jetzt immer noch nicht vernichtet«, sagte Onno, »dann ist das der ontologische Beweis dafür, daß Gott nicht existiert.«
Es war sieben Uhr. In der letzten halben Stunde gingen sie
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