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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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mir behaupten könnte, ich sterbe tausend Tode, und ich bekomme schlecht Luft.«
    »Warum weckst du mich?«
    »Ich wußte nicht, daß du schläfst.«
    »Was wolltest du mir sagen?«
    »Ich muß ständig an Max denken«, sagte Onno. »Hast du je einen Busenfreund gehabt?«
    »Einen Busenfreund?«
    »Also nicht. Ein Busenfreund ist jemand, dem du das erzählst, was du nie jemandem sonst erzählen würdest.«
    »Meinst du ein Geheimnis?«
    »Ich weiß nicht, was du mit dem Geheimnis meinst, aber ich meine etwas Schändliches, etwas, für das man sich schämt, das niemand wissen darf.«
    »So etwas habe ich nicht.«
    »Wirklich nicht?«
    »Was sollte das denn sein? Ich habe ein Geheimnis, das ich niemandem erzähle, aber nicht deshalb, weil ich mich schäme.«
    »Auch nicht«, fragte Onno, »deiner Mutter?«
    »Niemandem.«
    Quinten schwieg. Hatte sein Vater nicht selbst gesagt, seine Mutter sei eigentlich ein ›Niemand‹? Also erzählte er sein Geheimnis, wenn er es niemandem erzählte, eigentlich ihr. Sollte er seinem Vater das nun sagen? Der würde es zwar sofort verstehen, aber dann wäre natürlich etwas von seinem Geheimnis verraten. War vielleicht seine Mutter das Geheimnis?
    Plötzlich fuhr ein fernes Rumpeln in die Stille.
    »Da sind sie«, flüsterte Quinten.
    Alles lief wie geplant. In der Kapelle von San Silvestro kamen die Patres für die Komplet zusammen, danach würden sie sich schlafen legen. Einige Minuten später erklang der Gesang einer Altmännerstimme.
    Mit geschlossenen Augen, die die Finsternis um sie her zugedrückt hatte, lauschten Onno und Quinten dem dünnen gregorianischen Choral, der wie eine Spinnwebe im Raum hing. Für Onno strahlte er eine verzweifelte Einsamkeit aus, eine metallene Eiseskälte, die durch einen Spalt regelrecht aus dem Mittelalter hereinzuströmen schien, für Quinten jedoch rief die Harmonie der Stimmen das Bild von zehn oder fünfzehn Männern hervor, die mit ihrem Schiff untergingen, einander jedoch bis zuletzt festhielten. Die Psalmen, mit denen die Nacht beginnen sollte, wurden nur von einem kurzen Kapitelgebet unterbrochen.
    Nach einer Viertelstunde war die Tür zum Konvent wieder geschlossen.
    »Viertel nach neun«, flüsterte Quinten. »Also um zehn nach zehn.«
    In einer Viertelstunde würden die Patres im Bett und um Viertel vor zehn etwa eingeschlafen sein. Da Onno sich daran erinnert hatte, irgendwann einmal etwas über die Periodizität des Schlafes gelesen zu haben, hatte er auf Quintens Drängen in einer Universitätsbuchhandlung eine Studie darüber konsultiert. Neben den phantastischen Phasen des »paradoxalen Schlafes« – denen der Träume, aus denen man leicht erwachte – gab es im Schlaf vier Tiefengrade. Die erste und längste Phase des tiefsten Schlafs trat fünfundzwanzig Minuten nach dem Einschlafen ein und dauerte ebenfalls ungefähr fünfundzwanzig Minuten. Die zweite folgte siebzig Minuten später, dauerte nicht länger als zehn Minuten und wurde nach weniger als einer halben Stunde von einer noch kürzeren dritten und einer letzten abgelöst. Für Quinten reichten diese Informationen aus, um zu entscheiden, nur während der vierten, tiefsten, traumlosen Phase zu arbeiten, aus der die Schläfer nur mit Mühe aufgeweckt werden konnten. Insgesamt hatte er damit eine dreiviertel Stunde zur Verfügung.
    Das sollte reichen.

60
Das Kommando
    »Zehn nach zehn.«
    Als Mickymaus auf die Sekunde genau diese Zeit anzeigte, stand Quinten auf und schob leise den Vorhang beiseite. Drei bemalte Bleiglasfenster sorgten dank der Straßenbeleuchtung dafür, daß es nicht ganz dunkel war. Auf dem Altar brannte das Ewige Licht. Schnell und geräuschlos schlich er auf seinen weichen Einbrecherschuhen hinter dem Sancta Sanctorum herum auf die andere Seite, auch dort war kein Licht: Niemand war in stillem Gebet zurückgeblieben, nur ein säuerlicher Geruch deutete darauf hin, daß hier alte Männer gewesen waren. Zurück in der Kapelle des heiligen Lorenz, sah er den Schemen von Onno, der sich das schmerzende Bein rieb.
    Quinten holte seinen Rucksack aus dem Beichtstuhl, gab seinem Vater die Taschenlampe und ging durch die Reihen des Chorgestühls zur gegenüberliegenden, doppelten Tür mit den beiden Augen, die zum Sancta Sanctorum führte.
    Wie ein Arzt, der seinem Patienten den Puls fühlt, legte er kurz die Hand auf das obere Hängeschloß, das im bronzenen Gesicht die Nase war. Dann kniete er sich hin, öffnete den Rucksack und breitete vorsichtig ein

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