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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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zwischen den Gläubigen durch die Kapellen, in denen es langsam leerer wurde; unten an der Heiligen Treppe hatte sich bereits ein Pater aufgestellt, um weitere Treppenbesteigungen zu verhindern.
    »Wir können noch gehen«, sagte Onno ohne Hoffnung.
    »Aber wir tun es nicht. Laß uns schon mal unsere Positionen einnehmen.«
    Sie gingen zur rechten Seitenkapelle, wo sich jetzt nur noch ein älteres, offenbar deutsches Ehepaar aufhielt; sie trugen beide Lodenmäntel und betrachteten ein Fresko des heiligen Lorenz über dem Altar. Quinten wußte, daß gleich ein Pater die Runde machte, um die letzten Besucher mit salbungsvollen Gebärden zum Gehen aufzufordern. Der Pater würde nicht auf sie warten, sondern etwas später zu einer letzten Kontrolle wiederkommen. Sollte er auftauchen, ehe das Ehepaar gegangen sein würde, so wäre das dennoch kein Problem: Sie würden warten, bis sie allein wären, und dann schnell unsichtbar werden – zwischen dem Pater hier oben und dem am Fuße der vier profanen Trepp en gab es keine Kommunikation. Aber es wurde ihnen leichtgemacht. Als sie gegenüber der Bronzetür mit den Hängeschlössern standen, die zum Sancta Sanctorum führte, sah der Mann im Lodenmantel plötzlich auf die Uhr, sagte erschrocken: »Good heavens!« und zog seine Frau eilig am Arm die Treppe hinunter.
    Sowie sie außer Sicht waren, drehten Quinten und Onno sich um, zogen die schwarzsamtenen Vorhänge eines Beichtstuhls beiseite und schlüpften hinein.

    Die schlurfenden Sandalen des Paters waren gekommen und gegangen, fünf Minuten später wieder gekommen und gegangen, die Außentüren waren mit Donnerschlägen geschlossen, das Licht gelöscht worden, und in der totalen Finsternis ihres Verstecks lauschten sie den Geräuschen. Nachdem die Laien nach Hause geschickt worden waren, wurde unten am Eingang die weihevolle Stille bald von einem scheppernden Streit verdrängt. Die Geistlichen schienen sich geradezu verwandelt zu haben. Onno konnte nicht verstehen, was die keifenden alten Stimmen von sich gaben, das Faktum des Streits jedoch betrachtete er als Bestätigung seiner Theorie der Goldenen Mauer: Auch hinter der Goldenen Mauer der Kirche war es wie überall, und in gewisser Weise war das auch gut so, denn damit bewiesen die passionierten Greise in ihren schwarzen Kutten, daß sie religiöse Fachleute waren und keine frommen Amateure. Nach etwa zehn Minuten kehrte Ruhe ein. Murmelnde Stimmen in der Ferne, offenbar von der äußeren Treppe auf der anderen Seite, die zur Kapelle von San Silvestro führte; das Schlagen einer Tür dort, dem Zugang zum Konvent.
    Stille.
    Onno saß mit dem Stock zwischen den Beinen auf der Bank des Priesters, hatte die Hände über dem Schlangenkopf gefaltet und kam sich vor, als spiele er eine Rolle in einem absurden Theaterstück. Das hier konnte doch nicht die Wirklichkeit sein. Unter der Bank stand der Koffer. Wenn jemand ihn mit einem Schmetterlingsnetz und einem leeren Marmeladenglas losgeschickt hätte, um einen Basilisken zu fangen, wäre er sich nicht blöder vorgekommen. Hierher hatte ihn die schwüle kubanische Nacht, in der Ada ihn vor achtzehn Jahren verführt hatte, also gebracht: mit seinem Sohn in einen römischen Beichtstuhl, eingeschlossen neben dem heiligsten Ort der Welt, weil dort diesem Tyrannen zufolge Moses’ Gesetzestafeln aufb ewahrt wurden. Sie lagen ebensowenig dort wie die gestrige Zeitung – und selbst wenn: sie würden es nie erfahren. Seine Anspannung hatte ausschließlich mit der Unsicherheit über den Ausgang ihrer bizarren Einschleichaktion zu tun.
    Auch Quinten war sich diesbezüglich nicht ganz sicher, aber er zweifelte keinen Moment daran, daß er in die Kapelle eindringen und dort die Gesetzestafeln vorfinden würde. Sie warteten geradezu auf ihn. In seiner Hälfte des engen Schrankverstecks war es etwas unbequemer: Es gab nur eine Kniebank, auf die er sich setzen konnte. Durch eine Zwischenwand mit einer vergitterten, rautenförmigen Öffnung voneinander getrennt, hörten sie einander atmen.
    »Kannst du mich hören, mein Sohn?« flüsterte Onno.
    Vorsichtig drehte Quinten sich um und sagte möglichst nah am Gitter:
    »Ja.«
    »Zufrieden, daß du endlich deinen Kopf durchgesetzt hast?«
    »Ja.«
    »Was würde –« – »Ada«, lag auf Onnos Lippen – »Max sagen, wenn er uns hier sitzen sehen könnte?«
    »Keine Ahnung.«
    »Weißt du, was ich glaube? Daß er einen Lachkrampf bekommen hätte.«
    Onno dachte an Max’ Lachanfall in Havanna,

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