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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Einverstanden?«
    Quinten sah zwar den ironischen Zug in den Mundwinkeln seines Vaters, aber das störte ihn nicht.
    »Abgemacht«, sagte er.

59
Antichambrieren
    Am Abend des folgenden Tages, am Freitag, fanden sie in einem Straßencafé gegenüber dem Pantheon noch einen freien Tisch. Der Platz war voll von flanierenden Römern; jugendliche Touristen in Jeans saßen in blauen Trauben auf den Stufen des Brunnens mit dem Obelisken, wo Onno vor zehn Tagen seine Plastiktüte mit Einkäufen hatte stehenlassen. Als es dunkel wurde und ringsum die Stahlrolläden herunterratterten, schien es, als ob der Tempel – von Scheinwerfern auf den umliegenden Dächern raffiniert beleuchtet – nach seiner Reise durch den Tag und all die Hunderttausende von sonnigen Tagen anfinge zu phosphoreszieren. Bald danach flatterten einige kleine Fledermäuse wie verkohlte Papierfetzen um die antiken Mauern. Was Quinten auf den Fotos und Zeichnungen von Herrn Themaat nie gesehen hatte, sah er jetzt: Das Bauwerk sah aus wie ein verwitterter Totenschädel, mit der Kuppel als Schädeldecke, dem Tympanon als dreieckigem Nasenloch und den Säulen als Zahnreihe.
    Obwohl Quinten nicht ein einziges Mal danach gefragt hatte, nahm Onno an, er wolle mehr über die Zehn Gebote erfahren, die ihn plötzlich so beschäftigten, denn weiter als »Du sollst nicht töten« hatte er es wohl nicht gebracht. Während des Essens, während Tauben zwischen ihren Füßen die Brotkrumen aufpickten, weihte er ihn in das ein, was er inzwischen darüber wußte. Zunächst einmal wurde in der hebräischen Bibel gar nicht von den ›zehn Geboten‹ gesprochen, sondern von den ›zehn Worten‹: asereth ha’dewarim – was der griechischen Übersetzung deka logoi entsprach. Auf jede der beiden Tafeln waren fünf ›Worte‹ geschrieben. Traditionell lautete das erste Gebot: »Ich bin Jahwe, dein Gott, und du sollst keine anderen Götter haben neben mir.« Aber das »du sollst« stand im Hebräischen eigentlich gar nicht da; das erste ›Wort‹ lautete: »Du hast natürlich keine anderen Götter neben mir.« Er habe sich den Text noch einmal genau angesehen, erzählte Onno, und dabei entdeckt, daß der Dekalog nicht den Charakter eines Gesetzbuches habe, sondern eher den einer Anleitung für gutes Benehmen: »So etwas tut man nicht.« Spaghetti aß man nicht mit dem Löffel, von einem Messer ganz zu schweigen. Auch sei es nicht unwichtig, daß Jahwe keineswegs behauptet habe, es gebe neben ihm keine anderen Götter, sondern nur wolle, daß man sie nicht verehre – womit er deren Existenz geradezu bestätige. Das zweite ›Wort‹ habe übrigens auch einen doppelten Boden.
    Das Gebot, sich kein Bildnis zu machen, sei nur scheinbar antikunstsinnig, denn es komme von demjenigen, der den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe – die typische Bemerkung eines Künstlers, der nicht nur der beste, sondern auch der einzige sein wolle und unmittelbar im Anschluß daran zu Recht verkünde, er sei ein eifersüchtiger Gott. Das dritte ›Wort‹, daß man seinen Namen nicht einfach so gebrauche, und das vierte, daß man den Ruhetag in Ehren halte, berühre ebenfalls das Verhältnis des Menschen zu Jahwe. Das fünfte, man solle Vater und Mutter ehren, bilde die Überleitung zu den ›Worten‹ der zweiten Tafel, die das Verhältnis der Menschen untereinander regelten, zugleich aber gehöre es noch auf die erste Tafel, denn die Elternschaft sei eine Abbildung des Schöpfertums Jahwes.
    »Das war zumindest der Kommentar von Philo, mein Sohn, und du verstehst, daß ich vollkommen dahinterstehe.«
    Der lockere Ton kam nicht ganz von Herzen – sie dachten beide im selben Augenblick an Ada, die dort weit oben im Norden in ihrem weißen Bett lag. Der kleine Ober auf Plateauabsätzen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Goebbels hatte und mit einem Blick in die Welt sah, als wolle er sie lieber heute als morgen vernichten, räumte den Tisch ab und stellte ihnen den Kaffee hin. Die Pferdekutschen vor dem Pantheon waren verschwunden, und am Kiosk wurden die Zeitungsständer hereingeholt; auch die Stunde der Fledermäuse war vorbei, sie hatten den Schwalben Platz gemacht, die um den Tempel flogen mit einem Geräusch, als würden kleine Messer geschliffen: itis – itis –. Schweigend hörte sich Quinten die Darlegungen seines Vaters an, aber er war nicht bei der Sache. Onno täuschte sich mit seiner Vermutung, nicht die Zehn Gebote beschäftigten ihn, sondern lediglich die Tafeln, auf denen

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