Die Entdeckung des Himmels
sie geschrieben standen, diese konkreten steinernen Platten, die einige Kilometer entfernt auf ihn warteten – bis morgen nacht.
Mord, fuhr Onno nach einer Weile fort, sei nach dem sechsten ›Wort‹ not done , nach dem siebenten der Ehebruch, nach dem achten Diebstahl, nach dem neunten Verleumdung und nach dem zehnten alle Versuche, sich des Eigentums eines anderen zu bemächtigen. Diese zweiten fünf ›Worte‹ stünden letztendlich für nichts anderes als die uralte, universelle ›Goldene Regel‹: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Nach Hillel, einem legendären jüdischen Schriftgelehrten aus der Zeit des Herodes, dozierte Onno, laufe die gesamte Thora auf diesen Grundsatz hinaus, und alle fünf Bibelbücher von Moses mit ihren 613 Regeln. Für das Judentum seien diese zehn, anders als für die Christen, nicht wichtiger als die 603 anderen. Viele der anderen Gebote seien damals sogar verboten worden, zum Beispiel die Beschneidung, die durch die Taufe ersetzt worden sei. Onno mußte lachen. Ihm fiel plötzlich sein Pfarrer aus dem Konfirmandenunterricht wieder ein, vor vierzig Jahren in Den Haag. Während der erzählt habe, jüdische Jungen würden in den Bund mit Gott auf genommen, indem man bei ihnen einen kleinen Schnitt in die Vorhaut machte, habe er mit dem Zeigefinger eine kleine, vertikale Bewegung über sein Brustbein gemacht.
Er habe tatsächlich geglaubt, daß das die ›Vorhaut‹ sei – ein Pfarrer, sagte er. Nicht zu fassen, in was für einer Welt diese holländischen Kalvinisten lebten!
Mit der Spitze des Ringfingers tippte er kurz an die Zunge, pickte einen Brotkrümel von der Tischplatte und steckte ihn in den Mund. Da Quinten auf seine Ausführungen nicht reagierte, begriff er, daß dieser nur aus Höflichkeit zuhörte, was ihn jedoch nicht hinderte, fortzufahren. Es ging ihm zu sehr an die Ehre, ausschließlich technischer Assistent seines Sohnes zu sein; vielleicht hatte er für Quinten seine Pflicht als historisch-theologischer Ratgeber bereits erfüllt, aber das hielt ihn nicht davon ab zu sagen, was er noch zu sagen hatte.
»Als ein Schriftgelehrter Christus einmal fragte«, fuhr er fort, »was nach seiner Meinung das größte Gebot im Gesetz sei, sagte er, es sei die Liebe zu Gott. Das zweite Gebot, man solle seinen Nächsten genauso lieben wie sich selbst, sei jedoch dem ersten gleich. Offenbar ging er davon aus, daß jeder sich selbst liebt, Menschenkenntnis war nicht gerade seine Stärke; in dieser Hinsicht mußte man erst noch auf den Juden aus Wien warten. Wer sich selbst nicht liebte oder sogar haßte, durfte also dem zweiten ›Wort‹ zufolge auch seine Mitmenschen hassen, man durfte morden, wenn man dann auch Selbstmord verübte wie Judas und Hitler. Von der Hölle hatte Christus offenbar keine Ahnung, aber das war eigentlich klar: schließlich war er ein Wesen, das Gott liebte wie sich selbst.
Aber der Kern seiner Antwort lag im Istgleich-Zeichen, das er zwischen die fünf Gebote auf der einen und die fünf auf der anderen Tafel setzte; eines Tages formulierte er sogar eine positive Version der Goldenen Regel: ›Was du willst, das man dir tu, das füge auch dem andern zu, denn das ist das Gesetz und die Propheten.‹«
»Das ist das Gesetz und die Propheten –«, wiederholte Quinten, während etwas wie Freude auf seinem Gesicht erschien.
Die geheimnisvolle Redewendung gefiel ihm. Er sah seinen Vater an. Dessen Verstand erinnerte ihn an die rasendschnellen Wendungen, mit denen ein Eishockeyspieler seine Gegner austrickste, den Puck ins Tor jagte, mit knirschenden Schlittschuhen hinter dem Netz herumfuhr und übermütig den Schläger hob. Er war schon fast wieder der alte. Es schien, als hätten die letzten zehn Tage die vorangegangenen vier Jahre völlig ausgelöscht; keiner von beiden konnte sich eigentlich noch recht erinnern, wie diese Zeit gewesen war. Onno fragte sich deshalb, was sie für einen Sinn gehabt habe. Er erwiderte Quintens Blick, schlug dann aber die Augen nieder. Er dachte an das Gespräch, das sie beim Obelisken von Thutmoses geführt hatten: über die Kugel und den Punkt.
Selbst wenn das Leben Sinn hätte, überlegte er, worin lag davon dann der Sinn? Und wenn das eine rhetorische Figur war, galt das dann nicht auch schon für die Frage nach dem Sinn des Lebens? War das vielleicht der Grund, weshalb Quinten nicht wußte, was mit ›Sinn‹ gemeint war?
Sie standen erst auf, als Goebbels die Stühle unter ihnen
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