Die Entdeckung des Himmels
wegzog und zwei brummende Fahrzeuge der Stadtreinigung langsam wie Krabben mit sprühenden Wasserdüsen und rotierenden Besen von der Piazza della Minerva herangekrochen kamen. Die Strahler waren schon seit einer Weile ausgeschaltet, das Pantheon war in die graue Nacht zurückgeschickt worden. Schweigend gingen sie durch schmale, dunkle Straßen und über verlassene Plätze, auf denen bärtige marmorne Gestalten inmitten ihrer wüsten Kraftanstrengung, sich der Schwerkraft zu entreißen, erstarrt waren. Vielleicht, dachte Quinten, gab es jetzt niemanden, der das Pantheon anschaute – wie war es dann möglich, daß es dennoch existierte?
Müßte, um die Welt zusammenzuhalten, nicht eigentlich immer jemand ununterbrochen auf sie schauen?
Nach Plan wachte er erst gegen Mittag auf, denn zum Schlafen würde nun vorläufig erst einmal keine Zeit mehr sein; Onno hingegen war immer wieder aus dem Schlaf hochgefahren.
Jedesmal starrte er mit pochendem Herzen und weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und fragte sich verzweifelt, worauf er sich da bloß eingelassen hatte. Wenn jemand ihm das irgendwann einmal prophezeit hätte, hätte er diesen Irren wahrscheinlich ein Leben lang gemieden. – Sie sprachen wenig miteinander an diesem Samstagnachmittag. Draußen war langweiliges, graues Wetter. Onno versuchte, die Zeitung zu lesen, aber je später es wurde, desto unruhiger wurde er.
Er hoffte, daß irgend etwas dazwischenkäme, ein Erdbeben, Krieg, das Ende der Zeiten, aber die Wirklichkeit hatte beschlossen, sich um ihre Expedition nicht zu kümmern.
Quinten hingegen war verwundert über seine eigene Ruhe.
Ihm war, als müßte er eine Routinesache erledigen, mit dem Hund hinausgehen oder die Heizung herunterdrehen, während er zugleich das Gefühl hatte, als ob sein ganzes Leben auf diesen einen Tag ausgerichtet gewesen sei. Daß er heute nacht in die Mitte der Welt vordringen würde, die ihn in seinem Traum so erschreckt hatte, flößte ihm nun keine Angst mehr ein. War das Zentrum seiner geheimen Burg vielleicht gefährlicher als die Wirklichkeit? Wie ein Faden Seetang schwebte ein Buchtitel – oder war es der eines Theaterstücks?
– durch seine Gedanken: Das Leben ein Traum. Er erinnerte sich, wie Max einmal gesagt hatte, man könne nicht beweisen, daß man im wachen Zustand nicht träume, denn auch in einem Traum sei man sich manchmal ganz sicher, wach zu sein und nicht zu träumen. Wenn die Wirklichkeit also ein Traum sein konnte, konnte dann vielleicht auch ein Traum Wirklichkeit werden?
Gegen Abend stand er mit verschränkten Armen vor der Fensterbank und sah zu dem Bronzeengel auf dem Castel Sant’Angelo hinüber, der plötzlich, als die Sonne wie eine strahlende Orange unter den Wolken hervorkam, wie eine goldene Vision zu leuchten begann.
»Wir müssen gehen«, sagte er und drehte sich um.
Onno war eingeschlafen.
»Was, was?« Er richtete sich stöhnend auf seiner Matratze auf. »Nein, oder? Wir tun es doch nicht wirklich?«
»Und ob wir es tun. Es ist halb sechs. In zwei Stunden schließt das Sancta Sanctorum.« Quinten nahm den kleinen, knallroten Rucksack, den er gestern gekauft und schon vor Stunden gepackt hatte, von der Pritsche. »Kommst du? Oder willst du lieber weiterschlafen?«
»Natürlich würde ich lieber weiterschlafen«, sagte Onno unwirsch und stolperte zum Wasserhahn. »Ich habe gerade von einer idealen Welt ohne Verbrechen, ohne Gebote und ohne allzu unternehmungslustige Jungen geträumt.«
Nachdem sie bei Mauro jeder noch ein halbes Schinkenbaguette gegessen und dazu einen Espresso getrunken hatten und noch einmal auf der Toilette gewesen waren, schlug Onno vor, ein Taxi zu nehmen, aber das erschien Quinten unvernünftig: wenn es schiefginge, würde der Fahrer eine Personenbeschreibung abgeben können. Auf dem Corso Vittorio Emanuele nahmen sie den Bus und stiegen an der Basilika aus.
Als sie am Obelisken vorbei zum Eingang gingen, hob Onno den Stock und sagte:
»Ave, Pharao, morituri te salutant.«
In der anderen Hand hatte er einen flachen, soliden Flugzeugkoffer aus grauem Kunststoff, in den gleich Moses’ Gesetzestafeln wandern sollten.
Das Sancta Sanctorum war reger besucht als in den letzten Tagen – vielleicht weil morgen Sonntag war. Das mürrische Gesicht eines Paters, der gespannt dasaß, um jederzeit wütend mit seiner Münze an die Glasscheibe klopfen zu können, hellte sich augenblicklich auf, als er Quinten sah.
»Diesen lieben alten Mann«, sagte Onno,
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