Die Entdeckung des Himmels
und inzwischen war sie vielleicht verwitwet und trug einen anderen Namen. Er mußte also sofort zum Standesamt und zum Holocaustmuseum Yad Vashem, wo all die Millionen von Toten dokumentiert waren; vielleicht hatten sie dort auch die deutsche Nummernregistratur aus Auschwitz. Aber er blieb liegen, er blieb in seinem heißen kleinen Zimmer ohne Klimaanlage liegen. Hatte sie noch ein Kind bekommen? Wahrscheinlich nicht. Ihr einziger Sohn war nun tatsächlich tot – hatte sie vorhin neben ihrem einzigen Enkel gesessen? Hatte Quinten neben seiner Großmutter gesessen? Er ertappte sich dabei, wie er sich an diese Spekulationen klammerte, um das Wichtigste zu umgehen. Mit geschlossenen Augen runzelte er die Brauen. War Max dazu imstande gewesen? Natürlich, Max war zu allem imstande; für Frauen hätte er sogar Gott verraten. Aber Ada? Er dachte an die Nacht in Havanna vor fast achtzehn Jahren, als nach ihrer Berechnung Quinten gezeugt worden war. Abends spät ihr Schemen in der Tür seines Hotelzimmers – woher kam sie? Er machte die Augen auf. Verdammt, da war es! Sie war mit Max am Strand gewesen, ohne ihn, und er betrog sie gerade mit Maria, der revolutionären Witwe – das heißt: er hatte sich von ihr verführen lassen, so wie Ada ihn in derselben Nacht verführt hatte, was völlig gegen ihre passive Natur war! Er setzte sich auf, ein Fetzen der Matthäuspassion tauchte in ihm auf, in der Ada mitgespielt hatte: »Was dürfen wir weiter Zeugnis …?«
Hatte sie mit Max eine Art Wiederholungsübung veranstaltet, eine etwas zu aktiv ausgefallene Nostalgie, von der sie sich bei ihm reinwaschen wollte, sich aber in Wirklichkeit mit Maria besudelt? Max war in diesem Fall der Stärkere gewesen. Sie konnte nicht schwanger werden, sie nahm die Pille, aber sein Samen war ebenso unverfroren wie er selbst und hatte darauf keine Rücksicht genommen. Das erklärte eigentlich alles! Monatelang mußte er in der Angst gelebt haben, daß das Kind ihm ähnlich sehen würde, und sein Angebot, es aufzuziehen, war nicht einfach ein Freundschaftsdienst gewesen, sondern eine Buße – und insofern eben doch wieder ein Freundschaftsdienst. Damit hatte er ihm, Onno, ein Schuldgefühl aufgeladen, weil er seinen eigenen Sohn nicht großzog, der vielleicht gar nicht sein leiblicher war und den er dann später vollkommen im Stich gelassen hatte! Mit abgewandtem Kopf sah er aus dem Fenster in den blauen Himmel, in dem das unsichtbare Geräusch von Kirchenglocken und gurrenden Tauben hing. Was nun? Wenn das alles stimmte, war die alte Dame Eva Weiß. Vielleicht stimmte es aber auch nicht. Hatte Max gewußt, daß Quinten sein Sohn war? Quinten sah keinem von ihnen ähnlich, aber vielleicht hatte Max dennoch irgendeine Ähnlichkeit entdeckt? Wußte Sophia vielleicht auch Bescheid? Die beiden hatten doch etwas miteinander gehabt! Oder vielleicht hatte Sophia etwas entdeckt, etwas Unauffälliges, eine seltsame Kleinigkeit, aber nie mit ihm darüber gesprochen. Und da sie auch vor ihm, Onno, nie ein Wort darüber verloren hatte, würde sie das auch jetzt nicht tun. Zumal dieses Wissen niemandem etwas nützte, Quinten am allerwenigsten. Jahrelang hatte er seinen Vater gesucht und ihm vielleicht jeden Abend bei Tisch gegenübergesessen, und der hatte die ganze Zeit auch tatsächlich als sein Vater fungiert. Die einzige, die Freude an alldem haben würde, war Chawah Lawan. Die Nachricht, daß ihr Sohn nicht mit neun Jahren vergast, sondern ein führender Astronom geworden war, der unlängst erst im Alter von einundfünfzig Jahren gestorben war, würde sie vermutlich in eine seltsame Stimmung aus Freude und Verzweiflung stürzen; vielleicht hatte sie die Meldung seines phantastischen Todes ja sogar hier in der Zeitung gelesen, aber ohne seinen Namen, nur mit dem Hinweis auf einen »niederländischen Astronomen in Westerbork«, denn unbedingt berühmt war er nicht gewesen. Aber wenn sie die Nachricht überlebte, würde sie danach in die Augen ihres Enkels blicken wie in einen Spiegel. Er konnte die Wahrheit nur herausfinden, indem er die Identität dieser Frau mit der Nummer 31 415 feststellte – und vielleicht war das heutzutage auch auf medizinischem Wege möglich. Er hatte jahrelang keine Zeitungen gelesen, aber es würde ihn nicht wundern, wenn die ganze DNS-Forschung mittlerweile zu zuverlässigen Tests geführt hätte. Aber dann würde auch Quinten Blut oder Speichel hergeben müssen, und schon das hätte eine vergiftende Wirkung auf ihn, auch
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