Die Entdeckung des Himmels
zweimal im Jahr hatte er seine Koffer gepackt und war zu einer Konferenz gefahren, bis nach Amerika, Japan und Australien war er gereist, aber Quinten konnte sich nicht erinnern, je etwas über Israel gehört zu haben. Vielleicht waren sie hier in der Astronomie nicht so bewandert.
Max, Sophia, seine Mutter, sein Vater – ihm war, als nehme er Abschied. Er ließ das Kinn müde auf die Arme sinken und schaute über die trockenen, sonnenbeschienenen Hügel, die hinter der tiefer gelegenen Neuen Stadt bis zum Horizont reichten. Es schien, als ob das Wellenmuster, das die blutgetränkte Erde vom blauen Himmel abhob, nicht durch geologische Kräfte, sondern durch die beseelte Hand eines Zeichners entstanden war. Er war nun trocken, die sengende Hitze, die über Stadt und Land hing, hüllte ihn wieder ein – und plötzlich hebt er verwundert den Kopf. Es ist kein Geräusch mehr zu hören. Die Kirchtürme schweigen, vielleicht weil irgendeine heilige Stunde verstrichen oder angebrochen ist; aber auch aus den Fenstern ringsum dringt kein Laut mehr.
Sogar das Gurren der Tauben ist verstummt. Als ob die Welt in einen tiefen Schlaf gesunken ist – Häuser, Landschaft und Himmel. Was ist plötzlich los? Schläft sein Vater nebenan jetzt auch? Nirgends bewegt sich mehr etwas, auch das Flimmern auf den Dächern hat aufgehört. Er hat das Gefühl, als schaute er nicht in die Wirklichkeit, sondern auf ein altmodisches, gemaltes Panorama, ähnlich dem Panorama Mesdag in Den Haag, das er einmal mit Tante Dol besucht hat; in dieser Dünenlandschaft herrschte auch eine so atemlose Stille wie jetzt hier. Alles, was er sieht, existiert, und zugleich existiert es nicht. – Nur mit ihm hat sich etwas verändert, er hört seinen Puls und das Sausen des Blutes in den Ohren.
Aber dann geschieht doch etwas. In der blauen Himmelskuppel erscheint plötzlich ein kleiner schwarzer Punkt, als ob ein Loch entstünde – nicht weit über dem Horizont, in Richtung Tel Aviv. Der Punkt bewegt sich ein bißchen auf und ab und wird langsam größer. Und augenblicklich scheint er viel näher zu sein, wie etwas, das sich tatsächlich nähert: es nimmt Gestalt an und dehnt sich in der Breite zu einem schwarzen Strich aus, dessen Enden sich getragen auf und ab bewegen.
Ist es ein Vogel? Aber ein großer. Schlagartig springt Quinten hoch und sperrt seine Augen auf. Edgar! Es ist Edgar! Er ist schon über dem steilen Tal und bewegt sich direkt auf das Hotel zu. Ist es denkbar, daß er Onnos Spur von Italien aus bis hierher gefolgt ist? Das ist doch nicht möglich! Aber wer versteht schon die Vögel, niemand weiß, wie sie imstande sind, ihren Weg manchmal um die halbe Welt zu finden. Als Edgar über der Stadtmauer ist, unterbricht er seine Flügelschläge und geht mit voller Spannbreite in einen eleganten Sturzflug über. Kurz darauf landet er mit nach vorne gestreckten Krallen auf der Fensterbank, schüttelt sein Gefieder, legt die Flügel zusammen, dreht sich einmal um die eigene Achse, hebt den Schwanz, läßt etwas Kot fallen und sieht ihn mit einem Auge an.
»Du wirst nebenan erwartet«, sagt Quinten und macht einen Schritt zurück. »Nächstes Fenster.«
Zugleich wundert er sich über seine Stimme. Sonst hört er sie immer von zwei Seiten: durch die Ohren und von innen heraus, aber jetzt bleiben seine Worte tief in seiner Brust hängen, und er hat das Gefühl, als wären seine Ohren verschlossen. Auch Edgars Ankunft hat in vollkommener Stille stattgefunden. Selbst wenn der Vogel seine Worte gehört hätte, verstanden hätte er sie nicht; auf jeden Fall kümmert er sich nicht darum. Mit einem flatternden Sprung hüpft er auf den Boden und tappt dann geziert zur Tür.
»Natürlich«, sagt Quinten, »wie du willst. Über den Gang geht’s auch. Das wird eine Überraschung für Papa sein.«
Aber als er über die Schwelle tritt, hält er inne. Es gibt keinen Gang mehr. Die gegenüberliegende Wand hat einer Balustrade mit amphorenförmigen Geländersäulen Platz gemacht, und dahinter öffnet sich ein unabsehbarer Raum mit Treppen und Bogengängen. Er dreht sich um. Nicht nur die Tür zum Zimmer seines Vaters ist verschwunden, auch die zu seinem eigenen, die ganze Wand ist weg: auch auf der Seite, in der Ferne, oben und unten endlose Fluchten von Säulengängen, Nischen, Portalen, Gewölben –. Er steht auf einer von Karyatiden getragenen schmalen Laufb rücke, die einem gemeißelten Fenstersims mit einem Tympanon entspringt und in einiger Entfernung
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