Die Entdeckung des Himmels
Er wußte es nicht.
»Tante Dol hat gesagt, daß deine Sachen in Rotterdam im Hafen gelagert sind.«
»Davon will ich nichts mehr haben«, sagte Onno sofort, während zugleich die dunkelbraune, mit den schönen Goldschnitzereien geschmückte Kampferkiste vor seinen Augen erschien, in der seit siebzehn Jahren Adas Kleider lagen.
»Mamas Cello«, sagte Quinten, »steht jetzt in meinem Zimmer auf Groot Rechteren.«
Onno nickte und schwieg.
Das Mädchen kam mit der Bestellung, Quinten nahm einen Schluck von seinem Möhrensaft, und zu seiner Verwunderung schmeckte er tatsächlich nach Möhren – oder besser: er schmeckte den Möhrengeschmack, ohne mit lautem Knacken in eine Möhre gebissen zu haben. Er wollte es seinem Vater sagen, sah dann aber, daß auch er verwundert schien.
»Schau dir das an«, sagte Onno und zeigte auf das dunkelbraune Plätzchen aus Mandeln und gebranntem Zucker, das neben dem Kaffee auf der Untertasse lag. »Ein Mandelkeks!
Weißt du noch? Die es immer bei Oma To gab. Die im Mund so krachen.« Behutsam nahm er das runde braune Plätzchen zwischen die Finger, hob es mit zwei Händen hoch wie ein Priester die Hostie, und es lag ihm auf den Lippen zu sagen: »Mutter! Hoc est enim corpus tuum!«, aber er rief nur begeistert: »Ein Mandelkeks!«
Doch die Verwunderung griff noch weiter um sich. Am Nachbartisch waren die beiden alten Damen gerade dabei zu gehen; die eine wartete bereits auf der Straße, die andere – in einem rahmweißen Kleid mit halblangen Ärmeln – bezahlte und wandte kurz ihren Kopf um.
»Ein ›Mandelkeks‹«, sagte sie mit starkem hebräischem Akzent auf niederländisch, »das Wort habe ich schon lange nicht mehr gehört.«
Quinten sah sie nicht direkt an, seine Aufmerksamkeit wurde von der blauen Nummer auf ihrem faltigen Unterarm gefesselt: 31 415. Als auch sie gegangen war, öffnete Onno den Mund, um etwas zu sagen, aber Quinten kam ihm zuvor: »Hast du die Nummer auf ihrem Arm gesehen? Ich dachte immer, daß sich nur der Pöbel tätowieren läßt.«
Einige Sekunden lang sah Onno Quinten starr in die Augen.
»Hatte sie eine Nummer auf dem Arm?« fragte er, als könne er nicht glauben, was er gehört hatte.
»Drei eins vier eins fünf. Was ist mit dir? Du schaust so komisch.«
Onno begann zu zittern, wobei er das Gefühl hatte, daß das Zittern aus seinem Stuhl kam, aus der Erde, wie bei einem beginnenden Erdbeben. Er ließ Quintens Blick nicht los.
»Was ist denn, Papa?« fragte Quinten beunruhigt. »Warum sagst du nichts?«
Was er gesehen und was Quinten nicht gesehen hatte, war die Farbe ihrer Augen – dieses unbeschreibliche Lapislazuli, das er in seinem ganzen Leben nur einmal bei einem Menschen gesehen hatte: bei Quinten. Er hatte ihm sagen wollen, daß sie dieselben Augen habe wie er, aber als Quinten von der Tätowierung sprach, von dieser Auschwitznummer, verursachte das in seinem Kopf sofort einen Kurzschluß. Sah er Gespenster? Er wollte nicht denken, was er dachte, es war zu schrecklich, aber nicht zu übersehen, er versuchte, es zu verdrängen, es zu packen und zu zertrampeln wie eine Hornisse; aber es war da und wich nicht aus. Er mußte darüber nachdenken, es kaputtdenken, jetzt sofort, aber nicht mit Quinten in seiner Nähe, er mußte allein sein. Nie durfte Quinten erfahren, um was es ging. Mit Schwung stand er auf und klammerte sich an seinen Stuhl.
»Ich will weg, ich gehe ins Hotel. Bleib ruhig hier, ich sehe dich nachher.«
Quinten stand ebenfalls auf.
»Es ist doch nichts mit deinem Kopf? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Es ist nichts mit meinem Kopf – das heißt – frag bitte nichts mehr.«
»Ich gehe mit dir.«
Quinten bezahlte bei dem Mädchen, das gerade den Tisch der beiden Damen abräumte, und nahm Onno am Arm. Am Ende der Einkaufspassage hielt er ein Taxi an und half ihm beim Einsteigen. Während der kurzen Fahrt sprachen sie nicht; er spürte, daß sein Vater einen Kampf führte, den er nicht verstand. Hatte er wieder einen leichten Schlaganfall gehabt und wollte es nicht wahrhaben? Auf jeden Fall durfte er ihn nicht allein lassen. Entlang der Altstadtmauer fuhren sie wieder zum Jaffator und stiegen an dem Platz aus, der ihnen so vertraut war, als würden sie schon seit Wochen hier wohnen.
»Führer gefällig? Führer gefällig? Woher kommen Sie?«
Aron kam aus dem kleinen Büro und legte die Schlüssel auf den Tisch mit einem Gesicht, das zu sagen schien, daß nichts auf der Welt ihn noch wunderte, da alles nun einmal
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