Die Entdeckung des Himmels
Kloster? Passionist werden? Sich an der Klagemauer ein schwarzes Band um den Arm wickeln lassen?
Er dachte an seinen eigenen Besitz, an die beiden Gesetzestafeln, von denen er immerhin wußte, daß sie aus Saphir waren – das Testimonium , das zugleich auch wieder nicht sein Besitz war und das er heute oder spätestens morgen irgendwie aus der Hand geben würde. Danach hatte er hier nichts mehr zu suchen, auch nicht in einem Kloster. Gestern, in der Francis Bacon – Seine Gedanken wurden von einem Mädchen unterbrochen, das die Bestellung aufnehmen wollte. Er zeigte auf den Nachbartisch, an dem die alte Dame, die mit dem Rücken zu ihm saß, ein orangefarbenes Getränk vor sich stehen hatte.
»Was ist das?«
»Möhrensaft.«
»Möhrensaft? Habe ich noch nie getrunken.«
»Nehmen wir«, sagte Onno. »Möchtest du etwas essen? Wie spät ist es?«
»Viertel vor zwölf. Ich habe keinen Appetit.«
Nachdem Onno sich eine Tasse Kaffee bestellt hatte, fragte er:
»Wollen wir nachher zum Postamt gehen und Oma Sophia anrufen? Das hatten wir uns im Sancta Sanctorum vorgenommen.«
»Und willst du ihr dann alles erzählen?«
»Ach was! Das würde vermutlich nur einen Kurzschluß in der Telefonzentrale verursachen. Nur ein Lebenszeichen geben. Ich weiß ja nicht, was du noch alles vorhast, aber es wird wohl darauf hinauslaufen, daß wir auch mal wieder zurück in die Niederlande fahren.«
»Ja?« fragte Quinten. »Und dann?«
Onno seufzte.
»Keine Ahnung. Als ich vorhin Tante Trees in der Via Dolorosa sah, war das für mich ein Zeichen, daß sich die Welt wieder auf mich zubewegt. Aber was soll ich da? Für dich ist das kein Problem, du bist siebzehn, dir stehen noch alle Möglichkeiten offen; aber ich habe keinen einzigen Bezugspunkt mehr. Ich bin eigentlich nur noch eine Art wandelnder Turm von Babel. Was fängt so jemand an? In unserer Verwandtschaft werden sie alle uralt, aber ich kann doch nicht noch vierzig Jahre lang in der Welt herumirren.«
Er hatte den Stock zwischen die gespreizten Beine gestellt, die Hände ruhten auf dem Griff; er stützte das Kinn darauf und beobachtete die Passanten. Quinten kam Onnos Einstellung viel zu senil vor, und er fragte ihn: »Warum fängst du nicht etwas ganz Neues an?«
»Etwas ganz Neues – dann nenn mir mal was ganz Neues.«
»Oder etwas ganz Altes«, sagte Quinten. »Was wolltest du als kleiner Junge werden?«
Onno legte die Wange auf die Hände und sah Quinten nachdenklich an.
»Was wollte ich als kleiner Junge werden –«
»Ja. Das allererste, das du werden wolltest.«
»Das allererste, das ich werden wollte«, wiederholte Onno mit einem singenden Ton in der Stimme wie bei einer Litanei.
Er hob den Kopf. »Puppendoktor.«
»Puppendoktor?« wiederholte Quinten nun seinerseits. »Was ist denn das?«
»Das ist jemand, der kaputte Puppen repariert.« Seit fast einem halben Jahrhundert hatte Onno nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, da er es sagte, begriff er plötzlich, daß das etwas mit seiner Mutter zu tun hatte, die ihn jahrelang als Mädchen ausstaffierte.
»Na bitte«, sagte Quinten, »dann wirst du eben Puppendoktor!«
Im selben Augenblick sah Onno sich in einem kleinen Laden in einer engen Seitengasse der Amsterdamer Innenstadt, wie er, umgeben von Regalen mit Hunderten rosa glänzender Puppen, kaputte Augen reparierte und neue Mama-Stimmen einbaute.
»Ich werde mal darüber nachdenken«, sagte er. »Was hat Lazarus getan, nachdem er von den Toten erweckt wurde?«
»Steht das nicht in der Bibel?«
»Ich glaube nicht. Ich kann mich vage an eine Legende erinnern, die besagt, daß er nach Marseille ging und dort der erste Bischof wurde.«
»Vielleicht ist er den Leuten ständig mit seinen Erfahrungen mit dem Tod auf die Nerven gegangen.«
»Dann würden wir sicher etwas darüber wissen. Wenn du mich fragst, hat er nie darüber gesprochen.« Er wandte Quinten den Kopf zu. »Sowenig wie ich jemals über eine bestimmte Erfahrung sprechen werde.« Als Quinten nicht reagierte, sagte er: »Auf jeden Fall brauchen wir in Amsterdam ein Dach über dem Kopf. Die ersten paar Wochen können wir in einem Hotel wohnen, aber dann muß ich etwas mieten oder kaufen. Ich werde nachher gleich Hans Giltay anrufen. Der wird sich auch wundern.«
Quinten wußte, daß er nicht mitgehen würde, aber das konnte er nicht sagen. Nicht weil er es nicht wollte, sondern weil es einfach nicht passieren würde. Was sollte er antworten, wenn sein Vater ihn nach dem Grund fragte?
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