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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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in den Schatten eines hohen Portikus taucht. Mit einem tiefen Seufzer schaut er sich um. In all ihrer süßen Glückseligkeit und warm wie sein eigener Körper, umschließt ihn endlich wieder die Burg. Immer wieder hat er an sie gedacht, in Venedig, in Florenz, in Rom, in Jerusalem, aber jetzt, wo er wieder hier ist, erinnert sie ihn an etwas anderes: sie ist, was sie ist, wie auch die Sonne niemand anderes braucht, um gesehen zu werden. Doch ist es kein Sonnenlicht, das ihn umgibt, auch kein einfaches Mondlicht, eher so wie das »aschgraue Licht« unmittelbar vor oder nach Neumond auf der Mondoberfläche neben der dünnen Sichel, das manchmal nicht aschgrau wirkt, sondern eher wie Marmor; es wird, hatte Max ihm an einem Winterabend auf dem Balkon seines Schlafzimmers erzählt, durch von der Erde reflektiertes Sonnenlicht verursacht, und es ist um so klarer, je bewölkter diese Seite der Erde ist.
    Edgar hüpft unruhig auf der Balustrade auf und ab und schaut mit geneigtem Kopf nach unten oder nach oben oder beides; er spreizt die Flügel und taucht ab, steigt auf, schwebt über eine Reihe massiver Verstrebungen, verschwindet in der Ferne hinter den Pfeilern eines Backsteinbogens, schwenkt in die Tiefe um eine kolossale Säule mit einem ausgeprägten Kapitell; auf dem milchweißen Schacht stehen untereinander die Buchstaben XDX. Es ist, als ob die Spur seines Erkundungsfluges wie ein schwarzes Band im Raum hängenbleibt.
    Als er genug gesehen hat, läßt er sich am Ende der Laufb rücke nieder, wendet den Kopf um hundertachtzig Grad nach hinten, zupft mit dem Schnabel im Gefieder und streckt mit gespreizten Schwungfedern einen Flügel aus. Quinten hat den Eindruck, daß der Vogel auf diese Weise die Zeit totschlägt – daß der Vogel auf ihn wartet. Als er bei ihm ist, hüpft und flattert er ihm als eine Art Fremdenführer voran. Die Kolonnade endet an einer breiten, von Skulpturen flankierten Marmortreppe, die hinabführt in ein kompliziertes Gebilde blinder Arkaden und schmaler, manchmal überdachter Gassen, die in eine Reihe pontifikaler Säle münden. Sobald diese ihrerseits in eine Flucht von überwältigenden, durch Pilaster voneinander getrennten Fassaden übergehen, die in Ornamenten nur so schwelgen, hat Quinten jegliches Zeit- und Orientierungsgefühl verloren. Aber das braucht er jetzt nicht mehr. Am liebsten würde er hier, in diesem totenstillen, verzückten Weltgebäude, das nur für ihn gemacht wurde, für immer hinter Edgar herlaufen. An einer Wendeltreppe, die sich um die gemauerten Blöcke eines meterdicken Pfeilers windet, entdeckt Edgar plötzlich einen Trick: Mit Krallen und Schnabel klemmt er sich an dem runden Geländer fest und rutscht ausgelassen in einer Spirale nach unten; das Gleichgewicht hält er mit den Flügeln. Lachend und immer zwei Stufen auf einmal nehmend, versucht Quinten mitzuhalten. Nach fünf Umdrehungen ist er unten, bleibt schwindlig stehen und schaut sich suchend um. Wo ist Edgar geblieben? Ist er verspielt? Hat er sich versteckt?
    Erschrocken erkennt Quinten, wo er sich befindet, aber er hat keine Angst. Nein, es ist kein Traum. Alles andere ist ein Traum, Israel, Italien, die Niederlande – die Burg ist das einzige, das tatsächlich existiert. Ihm gegenüber und etwa sieben Meter entfernt steht die doppelte, rautenförmige und mit Eisenstäben beschlagene Tür der Mitte der Welt weit offen; das schwere verrostete Schiebehängeschloß liegt am Boden.
    Schwarz wie die Rückseite eines Spiegels hockt Edgar wie ein Wächter auf der Schwelle und schaut ihm unverwandt in die Augen auf eine Weise, die nichts mehr mit Verspieltheit zu tun hat. Als er langsam näher kommt, entdeckt er hinter ihm den grünen Safe aus dem Hotel.
    Edgar dreht sich um, fliegt mit einigen kurzen Flügelschlägen darauf zu und wetzt seinen Schnabel daran – aber auch ohne diese Geste begreift Quinten, was er zu tun hat. Mit einem leichten Schauder steigt er über die Schwelle. Der Raum hat die Form eines Würfels, ist etwa zehn Meter lang, breit und hoch, und obwohl die Mauern keine Öffnungen haben, herrscht hier dasselbe Dämmerlicht wie überall sonst. Und es gibt nichts anderes als den Safe in der Mitte. Am Zahlenschloß kniet er nieder, über die Kombination braucht er nicht nachzudenken – es gibt nur eine, die in Betracht kommt; J, H, W, H. Er öffnet die gewaltige Tür und nimmt aus dem unteren Fach den Koffer. Als er die Schlösser hat aufschnappen lassen und den Deckel geöffnet hat, ist

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