Die Entdeckung des Himmels
so war, wie es war, und immer so sein würde, wie es sein würde. Über winklige Treppen, die von verwahrlosten Gängen mit ein paar Stufen nach oben und unten unterbrochen wurden, erreichten sie ihre rückwärtigen Zimmer im dritten Stock. Quinten schloß Onnos Tür auf und gab ihm den Schlüssel.
»Ich bin nebenan«, sagte er. »Wenn du mich brauchst, ruf mich einfach.«
»Du brauchst meinetwegen nicht im Hotel zu bleiben. Geh ruhig in die Stadt, es gibt genug zu sehen. Bis nachher.«
»Ruh dich ein bißchen aus.«
Als Onno schon im Zimmer stand, drehte er sich noch einmal um, und sie sahen einander an, als ob jeder noch auf ein Wort des anderen wartete.
Im Zimmer legte sich Onno sofort aufs Bett, warf den Stock neben sich auf den Boden, schloß die Augen und faltete die Hände über der Brust. Kaum lag er so aufgebahrt da, kamen seine Gedanken wieder in Fahrt.
Er sah sie wieder vor sich, wie sie sich zu ihm umwandte.
»Ein ›Mandelkeks‹ – das Wort habe ich schon lange nicht mehr gehört.«
Diese einzigartigen Augen – 31 415 – wie alt war sie? Ende Siebzig? Fast achtzig? War das Undenkbare tatsächlich denkbar? Hatte er Max’ Mutter gesehen? Eva Weiß? Konnte es wahr sein, daß sie noch lebte? Er versuchte, sich an ihr Hochzeitsfoto zu erinnern, das in Max’ ›Ehrenregal‹ auf Groot Rechteren auf dem Kaminsims gestanden hatte. Es war aus den zwanziger Jahren und also schwarzweiß gewesen, doch er erinnerte sich nur, daß Max die Augen seines Vaters und den Mund seiner Mutter gehabt hatte. Auch Nr. 31 415 hatte eine ausgeprägte Nase, aber das war in dieser Gegend nichts Besonderes, weder bei den Juden noch bei den Arabern; ihr Mund hatte vielleicht die Maxsche Sinnlichkeit bewahrt.
Wenn es stimmte, dann mußte er auch die – unvorstellbare – Konsequenz akzeptieren. Dann war Quinten nicht sein Sohn, sondern der Sohn von Max. Dann hatte Ada ihn mit Max betrogen. Dann hatte Max ihre Freundschaft verraten. Er widerte sich selbst an. Was waren das für Hirngespinste? Angenommen, Max’ Mutter hätte Auschwitz überlebt, dann wäre sie doch sofort in die Niederlande zurückgekommen, um ihren Sohn ausfindig zu machen, und über das Rote Kreuz hätte sie ihn im Nu bei dieser Pflegefamilie gefunden! Aber das waren Katholiken – war es denkbar, daß es ihnen in diesen wirren Zeiten gelungen war, Max irgendwie zurückzuhalten, weil er sonst jüdisch erzogen worden und seine Seele der Ewigkeit verlorengegangen wäre? So etwas war vorgekommen, in einem Fall sogar mit der Entführung in ein Kloster. Nein, er erinnerte sich, wie Max ihm erzählt hatte, daß er sich vor dem Essen nicht einmal hatte bekreuzigen müssen.
Eine andere Möglichkeit war, daß die Deutschen ihr erzählt hatten, ihr Sohn sei in ein Vernichtungslager deportiert worden, genau wie ihre Eltern. In den Niederlanden hatte sie sich dann erkundigt, ob sie überlebt hatten, und abschlägigen Bescheid erhalten. Aber ihr Sohn war nur deshalb nicht zurückgekehrt, weil er nie deportiert worden war. Vielleicht hätte sie das beim staatlichen Institut für Kriegsdokumentation herausfinden können, die Administration lag während des Krieges in den Händen des Jüdischen Rates; da sie jedoch jahrelang in der Überzeugung gelebt hatte, daß auch er nach Polen gebracht worden war, kam sie gar nicht auf die Idee. Somit hatte sie in den Niederlanden nichts mehr zu suchen gehabt und war nach Israel emigriert. Aber, Moment mal, Max’ Pflegeeltern hatten sich ihrerseits doch sicher erkundigt, ob seine Mutter zurückgekehrt war, und hatten offenbar ein Nein zu hören bekommen! Wie war das möglich? Alles war jederzeit möglich. Vielleicht hatten sie sich nach Eva Delius erkundigt, während Max’ Mutter sich als Eva Weiß hatte registrieren lassen, weil sie das Wort ›Delius‹ nicht mehr über die Lippen brachte. Wenn das so war, mußte es bei der Kriegsdokumentationsstelle noch in Erfahrung zu bringen sein. Und dennoch: es konnte alles auch ganz anders gewesen sein, mit Logik war die Wirklichkeit nicht zu rekonstruieren; er mußte einfach versuchen dahinterzukommen, ob diese Frau von vorhin Eva Weiß gewesen war. Das sollte doch wohl möglich sein, so groß war Israel nicht. Aber wenn sie es tatsächlich war, dann hatte sie ihren Namen vermutlich hebräisiert und hieß jetzt Chawah Lawan. Außerdem war sie 1945 noch keine vierzig Jahre alt gewesen; eine so attraktive Frau mit so auffallend schönen Augen hatte auf jeden Fall wieder geheiratet,
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