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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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wenn nach diesem Test herauskäme, daß er, Onno, eindeutig der Vater war. Und außerdem: Wollte er es wirklich wissen?
    Nach der Katastrophe mit Ada, Helgas Tod und seinen politischen und wissenschaftlichen Niederlagen hätte er dann schlußendlich auch keinen Sohn mehr. War es in diesem Fall nicht besser, die Augen der Jerusalemer Dame aus seiner Erinnerung zu verbannen? Was war die Wahrheit? Wenn er nichts unternahm, würde nie jemand sonst auf diese unselige Idee kommen und alles würde so bleiben wie bisher: Quinten behielte den Vater, den er gesucht und gefunden hatte, und er selbst hatte einen Sohn, und zwar so, wie Max ihn all die Zeit über gehabt hatte: seinen und doch nicht seinen Er schwenkte die Beine vom Bett herunter, nahm seinen Stock und stand auf. Quinten machte sich sicher immer noch Sorgen. Er würde ihm sagen, daß er auf dem Tempelberg vielleicht einen leichten Sonnenstich bekommen habe, aber jetzt sei alles wieder in Ordnung.

65
Der Gesetzesnehmer
    Nachdem Quinten Onno auf sein Zimmer gebracht hatte, war er auf sein eigenes nebenan gegangen. Auch an seinem Türpfosten befand sich ein weißes Röhrchen, eine Mesusa, das seinem Vater zufolge ein zusammengerolltes Stück Pergament mit Geboten aus der Thora enthielt. Er berührte es kurz, schloß die Tür hinter sich und legte mechanisch die kleine Kette davor.
    Im Zimmer war es stickig und heiß. Er zog sich aus, warf seine Kleider aufs Bett, legte die Uhr und den Kompaß auf das Waschbecken und machte sich frisch. Das Fenster stand offen, aber niemand konnte ihn sehen; auf der Rückseite des Hotels lag ein Innenhof, der auf drei Seiten von viel niedrigeren Gebäuden eingefaßt war. Ohne sich abzutrocknen schlang er sich ein Handtuch um die Hüften, kniete sich vor dem Fenster auf den Boden und verschränkte die Arme auf der Fensterbank. Schläfrig ließ er seine Blicke über die Altstadt schweifen, aus der das bronzene Läuten der Kirchenglocken heraufstieg; der Tempelberg lag hell auf der anderen Seite. Auf dem Dach gurrten die Tauben. Ein Blick auf den vibrierenden Kompaß zeigte ihm, daß das Fenster nach Nordwesten ging. Ihm war bewußt, daß jenseits der sanften Hügel in der Ferne, weit hinter dem Meer, der Türkei, dem Balkan, Österreich, Deutschland – das Bett seiner Mutter stand. Dort hatte sich mit Sicherheit nichts geändert, er war ja kaum vier Wochen weg von zu Hause. Wirklich? Waren es keine vier Jahre?
    Oder vierzig? Wie es Sophia wohl ging? Sie glaubte natürlich, daß er noch immer in Italien durch Kirchen und Museen irrte.
    Lebte Herr Themaat noch, von dem er soviel gelernt hatte?
    Wenn der wüßte, was er inzwischen getrieben hatte! Was er wohl gesagt hätte? »Gut gemacht, Kuku, you did it again !«
    Und Piet Keller? Ohne ihn wäre das Ganze gar nicht möglich gewesen. Wohnte Herr Spier noch in Wales, in dem Ort mit all den wirren Buchstaben? Und Clara und Marius Proctor, und Verdonkschot mit seinem Etienne, und Rutger samt seinem riesigen Vorhang – wo waren sie alle? Gab es Groot Rechteren noch, oder war das Schloß inzwischen voll von Schurken in schwarzen Stiefeln? Theo Kern war bestimmt noch da, mit seinen violetten Füßen. Er dachte auch kurz an Max, aber irgendwie anders. Obwohl er sein Leben lang mit ihm unter einem Dach gelebt hatte, konnte er ihn sich aus irgendeinem Grund nicht mehr genau vorstellen. Vergessen hatte er nichts – eine seiner ältesten Erinnerungen war, wie Max ihn vor dem Flügel auf den Schoß nahm und ihn allerlei Akkorde hören ließ –, aber es war, als spielte sich alles unter Wasser ab: sichtbar und ganz nah, aber trotzdem in einem anderen Element.
    Vielleicht war dieses Wasser der Krieg, der ihn immer irgendwie begleitet hatte. In groben Zügen kannte er Max’ Schicksal, etwas aus einer anderen, unvorstellbaren Welt zu der er keinerlei Beziehung hatte; auch mit der Verwandtschaft seines Vaters verband ihn wenig, aber es war letztendlich eben doch auch seine Verwandtschaft. Juden und Judenmörder – diese grausame Ehe war ihm so fremd wie die Geschichte der Azteken, auch wenn er jetzt im Hotelsafe das jüdische Gesetz verwahrte. Das hatte nichts mit der Tatsache zu tun, daß er selbst zu einem zweiunddreißigstel Jude war, wie er entdeckt hatte, denn das waren ohnehin kaum mehr als drei Prozent, sondern mit seinem Traum von der Burg. Max hingegen war zu fünfzig Prozent jüdisch; ob er jemals in Israel gewesen war?
    War er jemals durch die Straßen Jerusalems gegangen? Ein- bis

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